Montag, 27. Mai 2013

Im Gleichschritt -- Marsch! Zivilverteidigung in der Schule


Eine meiner Lieblingsgeschichten über die DDR ist die über unseren Sommerlehrgang Zivilverteidigung. Ende der neunten Klasse, drei Wochen vor den großen Ferien, hatten wir keinen Unterricht mehr. Stattdessen hatten wir Mädchen Zivilverteidigung, kurz: ZV.
 
Zivilverteidigung galt als „fester Bestandteil der sozialistischen Landesverteidigung“. So stand es im Lehrbuch Zivilverteidigung Klasse 9, Kapitel Eins. Der Lehrgang war Teil des Wehrunterrichts, der ab 1978 für alle neunten Klassen Pflichtveranstaltung war. Unser friedliebendes Land hielt es für notwendig, alle Bürger zu mobilisieren, um den „imperialistischen Kriegstreibern in den Arm zu fallen und ihre Absichten zu durchkreuzen“, schrieb besagtes Lehrbuch. Unter Einsatz unseres Lebens, versteht sich, sollten wir den militärischen Schutz des Sozialismus gewährleisten und „im Falle einer imperialistischen Aggression an der Seite der Sowjetunion“ den Feind schlagen. Unser Lehrbuch lieferte die notwendige ideologische Argumentationskette und ein klares Feindbild. Zur Erhaltung des Friedens Krieg spielen. Was für eine widersinnige Argumentation -- sagte ich aber nicht laut.
 
Drei Wochen vor Schuljahresende schlüpften wir Mädchen in olivgrüne Uniformen und marschierten über das Schulgelände. Während die Jungen ins Wehrlager fuhren, meist ein Kinderferienlager der nahen Umgebung. Das fanden wir fetziger. Wer allerdings als ideologisch aufmüpfig galt, musste bei uns Mädchen mitmachen. Um Zersetzungserscheinungen im Wehrlager vorzubeugen. Der Juni war warm. Wir stöhnten über die Hitze, schwitzten in unserer Tarnkluft und verfluchten die schweren Lederstiefel. Und freuten uns über den Ausfall von Mathe, Physik und Chemie. Dass wir auch attraktiv in Oliv aussahen, davon versuchten uns zahlreiche Fotos im Lehrbuch zu überzeugen: Mädchen mit ernster Miene und weißem Strickrolli unter der Uniformjacke standen stramm in Reih und Glied, ihre langen Haare seidenglatt über die Schultern fallend. Wenn die mal nicht beim Schießen vor die Augen fielen.
 
Mindestens eine von täglich sechs Stunden hatten wir Ordnungsübungen. Schließlich seien, so unser Lehrbuch, „bei Katastrophen oder im Verteidigungsfall“ Aufgaben zu lösen, die „von den Einsatzkräften der Zivilverteidigung und von allen Bürgern unverzügliches, entschlossenes und einheitliches Handeln erfordern, um das Leben, die Gesundheit und das Eigentum der Bürger sowie die Werte der sozialistischen Gesellschaft zu schützen.“ Weiter erklärte es, dass zur „Gewährung eines schnellen und kollektiven Handelns“ aller Personen die Leitung ihres Einsatzes „mit Hilfe kurzer eindeutiger Kommandos“ erfolge, „die für jeden ohne langwierige Erläuterungen verständlich sind.“ Das klang erstmal einleuchtend.
 
Also exerzierten wir: Grundstellung, Blickwendungen, Gleichschritt, Grußerweisungen, Antreten, Ausrichten des Zuges und Marschieren mit Gesang. „In Linie zu drei Gliedern antreten – marsch!“ brüllte unser Ausbilder. Seine Kommandos klangen knackig. „Im Laufschritt – marsch!“ Ich kam mir blöd vor beim Laufen, Arme in Brusthöhe angewinkelt, Ellenbogen steif nach hinten, Hände zur Faust geballt und durch „rhythmisches Durchschlagen der angewinkelten Arme“ die Bewegung unterstützend. Ich würde bestimmt nicht bei Havarie oder Luftangriff so herumlaufen. Ich war doch nicht bei der Armee.
 
Die Schutzausbildung schien dagegen sinnvoll. „Verhalten in Gefahrensituationen“ und „Retten und Bergen von Menschen“ waren sicher wichtige Themen. Selbst wenn der Klassenfeind nicht angreifen, sondern „nur“ ein Feuer ausbrechen würde. Als Verhaltensregel Nummer Eins beim „Retten und Bergen von Menschen“ notierte ich in mein ZV-Heft: Das Tragen zweckmäßiger Kleidung. In der Tat erwies sich unsere Uniform als äußerst zweckdienlich. Wir bauten Behelfstragen aus Jacken und Gürteln und schleppten uns gegenseitig fröhlich gackernd umher. In unseren Heften vermerkten wir die einzelnen Handlungsschritte bis zum Eindringen in „zugängliche Schadenelemente“. So hießen zusammengebrochene Gebäude. Begriffe wie „Schwalbennest“, „Trümmerkegel“ und „versperrter Raum“ blieben dennoch für mich abstrakte Bilder aus Kriegsfilmen.
 
Um gar nicht erst unter Trümmern zu landen, beschäftigten wir uns mit der „geschützten Unterbringung“, laut Lehrbuch der „Hauptmethode des Bevölkerungsschutzes bei imperialistischen Aggressionshandlungen“. Als Schutzräume galten alle unterirdischen Keller, Hohlräume, Schachtanlagen, Tunnel und Tiefgaragen. In Gruppen sollten wir die „Grundanforderungen an einen Schutzraum“, funktionelle Gliederung, Ausstattung und Verhalten im Schutzraum diskutieren. Ich war wenig überzeugt von der Sicherheit eines solchen im Angesicht moderner Waffen und hätte auch nicht gewusst, wohin ich im Ernstfall hätte laufen sollen. Die Theorie war ausgefeilt. Die Praxis wohl eher ein Chaos.
 
Auf einen Angriff mussten wir jeder Zeit vorbereitet sein. Ein Klingeln, und wir waren in Alarmbereitschaft, so die Vorstellung der Lehrbuchautoren, die hilfsbereit die unterschiedlichen „Sirenensignale zur Warnung und Alarmierung“ graphisch dargestellt hatten. Das Unterscheiden war schwierig. Kurz, lang, lang oder kurz, kurz, lang, lang. War das jetzt Feueralarm, Katastrophenalarm, Luftalarm, chemischer Alarm, gefahrdrohende Situation oder Entwarnung? Oder rief die Schulklingel zur Hofpause? Bei Angriff krochen wir unter unsere Tische im Klassenraum, bei Entwarnung wieder heraus. Unsere Schule hatte keinen Schutzraum. Die Tische erschienen mir jedoch wenig wirkungsvoll im Falle eines Luftangriffs.
 
Unser Ausbilder beruhigte uns: „Zum Schutz der Atemwege vor gesundheitsschädigenden Stoffen tragen wir zusätzlich eine Maske.“ Aha. „Die können wir uns jederzeit selbst herstellen. Das erforderliche filtrierende Material ist in jedem Haushalt vorhanden.“ Ich war gespannt. Aus den Nylonstrumpfhosen unserer Mütter (den kaputten, versteht sich, heile waren wertvoll und meist aus dem Westen) bastelten wir Strumpfmasken. Deren Anfertigung war mit präzisen Abbildungen im Lehrbuch beschrieben. Sechs Lagen Zellstoff wurden zu einem Zellstoffpäckchen gefaltet und „so in einen Damenstrumpf eingelegt, dass es weder Falten schlägt noch zerknittert wird“. Der Strumpf wurde sodann zu beiden Seiten des Päckchens verknotet, die fertige Maske über Mund und Nase gelegt und mit den Enden des Strumpfes hinter dem Kopf zusammengebunden. Passt!
 
 
Vorsorglich weist das Buch darauf hin, nur durch den Mund zu atmen und zusätzlich eine Schutzbrille zu tragen. Außerdem würden diese Atemschutzmittel nur vor Mikroben und radioaktivem Staub schützen. Na toll. Dann konnte uns ja nichts mehr passieren, spotteten wir. Wer fürchtete sich den schon vor ionisierender Strahlung? Das Tragen der Strumpfmaske fanden wir peinlich und ein bisschen unangenehm. Zum Glück mussten wir die Masken nur zur Anprobe im Klassenraum umbinden. Den Jungs blieb die Anfertigung von Strumpfmasken erspart. Sie übten mit echten Bevölkerungsschutzmasken.
 
Um Gefahrensituationen möglichst frühzeitig zu erkennen, übten wir Beobachten und Melden, also: viel sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Das klang wie bei Winnetou auf dem Kriegspfad. In den Doberaner Wiesen tat sich jedoch wenig. Also wählten wir eine befahrene Kreuzung in Stadtmitte. Zu zweit saßen Jugendfreundin Susemihl und Jugendfreundin Holtz am Karl-Marx-Platz, beobachteten die Straße und legten eine Beobachtungstabelle an: „8.32 Uhr: reger Verkehr; 8.44 Uhr: SMH-Wagen (Schnelle Medizinische Hilfe) aus Richtung Kröpelin; 8.50 Uhr: bepflasterter Trabant; 8.53 Uhr: VW rot, Renault rot; 9.02 Uhr: Herr Ahrens (unser stellvertretender Schuldirektor) wackelt im Trabant mit Zeigefinger.“ Der Verkehr war damals bedeutend ruhiger und jedes auffällige Auto wurde mangels anderer Vorkommnisse schriftlich festgehalten. Nach zwei Stunden erstatteten wir unserem Ausbilder vorschriftsmäßig Meldung.
 
Auf das nächste Thema unserer Ausbildung, „Selbst- und gegenseitige Hilfe“, freuten wir uns, denn das Erlernen von Maßnahmen der Ersten Hilfe war vor allem nützlich, wenn man seine Moped-Fahrerlaubnis machen wollte. Ich hatte die Moped-Prüfung mitsamt obligatorischem Erste-Hilfe-Kurs bereits in der achten Klasse absolviert. Ich kannte die Themen. Ich kannte die Fotos. Auf dem Spielplatz der Erstklässler legten wir uns gegenseitig in die stabile Seitenlage oder die Beine nach oben. Schocklagerung. An einem Übungsphantom übten wir äußere Herzmassage und Atemspende. Unser Ausbilder zeigte uns Lichtbilder mit Schnittwunden, Verbrennungen, Verätzungen, Vergiftungen und sonstigen Verletzungen. Jana konnte kein Blut sehen und plumpste vom Stuhl. Wir lagerten ihre Beine hoch. Wir übten das Anlegen von Druckverbänden, Blutsperren, Maßnahmen bei Knochenbrüchen und die Aufnahme eines Wirbelsäulengeschädigten. Zur Abschlussprüfung wurden Freiwillige mit Theaterblut präpariert. Durch gezieltes Fragen oder Abtasten und gespielte Aufschreie der „Verletzten“ sollten wir ihre Schädigung herausfinden und entsprechend versorgen. Jana simulierte eine Verbrennung dritten Grades und kicherte, als wir sie mühsam auf die Trage zerrten und abtransportierten.
 
Die Geländeausbildung machte mir am meisten Spaß. Ich fühlte mich wie eine Pfadfinderin. Wir lernten viele brauchbare Fakten: Moos wächst an der Wetterseite von Bäumen, die Jahresringe von Baumstümpfen liegen auf der Nordwestseite am dichtesten, Ameisen bauen ihre Hügel an der Südwestseite von Bäumen und alte Kirchen stehen mit dem Turm nach Westen und dem Schiff nach Osten. Wir schätzten Entfernungen nach Erkennbarkeit charakteristischer Umrisse und erfuhren, dass Kirchen ab 15.000 Metern und Fabrikschornsteine ab 6.000 Metern erkennbar seien. Und wir bestimmten Himmelsrichtungen und Marschrichtungszahlen mit dem Marschkompass. Das Messen von Entfernungen (E) mit Hilfe des Schrittmaßes (SM) erforderte mathematisches Geschick. Nachdem zuerst das persönliche Schrittmaß ermittelt wird – aus der Errechnung des arithmetischen Mittels mehrerer Werte der für eine abgeschrittene 100-Meter-Strecke benötigten Anzahl von Doppelschritten (DS) – wird nach der Formel E ist gleich DS mal 100 durch SM die Entfernung in Metern errechnet. Klingt kompliziert. Ist es auch. Daher schätzten wir Pi mal Daumen.
 
Derart lebenswichtige Kompetenzen für das Orientieren im Gelände konnten sich in den unterschiedlichsten Situationen als hilfreich erweisen. Wie zum Beispiel auf meinen Reisen in den hohen Norden des amerikanischen Kontinents. Dumm nur, dass in den Nationalparks Alaskas und Kanadas weder Fabrikschornsteine noch Kirchen zu finden waren. Aber immerhin konnte ich mich noch Jahre nach meiner Geländeausbildung in der subarktischen Wildnis mittels topographischer Karten orientieren. Das hatte ich gelernt. Ebenso wie das Zeichnen von Geländeskizzen. Mein ZV-Heft beinhaltet Ansichts- und Grundrissskizzen der Doberaner Wiesen, angefertigt am 24. Juni 1988 um acht Uhr. Eingezeichnet sind Wasserwerk, Hilfsschule und Gartenanlagen als Quadrate, Bäche als krumme Linien und Bäume als verkorkste Omega-Zeichen. Im Doberaner Mischwald bauten wir auch Zweighütten und Windschutze als behelfsmäßige Unterkünfte. Rüdiger Nehberg hätte an unserem Survival-Training seine wahre Freude gehabt.
 
Unser Lehrbuch führte uns bei allem Spaß unwillkürlich den vermeintlichen Ernst der Lage wieder vor Augen: „Die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz des Lebens und der Hilfeleistung setzen voraus, dass sich die Hilfskräfte im Gelände zweckmäßig bewegen, sicher orientieren und richtig verhalten.“ Warum? Um unter allen Bedingungen, bei Tag, Nacht oder Wirkung gegnerischer Waffen, schnell und sicher zum Einsatzort zu gelangen. Auch ohne Einsatzort bewegten wir uns mittels aufrechtem oder gebücktem Gehen, Kriechen, Gleiten oder kurzen und langen Sprüngen grazil und lautlos wie die Indianer im Gelände. „Jugendfreundin Susemihl! Bis zum Waldrand gleiten – vorwärts!“ Ich warf mich auf den Boden, presste mich ins Gras, wobei mein Kinn knapp den Boden berührte, Blick nach vorn, und robbte vorwärts. Zum Glück nur wenige Meter. Ich war kein Freund dieser Übungen.
 
Den Abschluss der ZV-Ausbildung bildeten die „Tage der Wehrbereitschaft“. Jetzt durften wir unser erlerntes Wissen zur Anwendung bringen. Gemeinsam mit den Jungen, die aus dem Wehrlager zurückgekehrt waren, machten wir uns auf den Abschlussmarsch. Wir sangen lauthals: „Wenn wir schreiten Seit an Seit“, liefen in Sechsergruppen und mit Laufkarte von Station zu Station, und schnatterten von unseren Erlebnissen in den Lagern. Wir hangelten über Bäche, schwangen an Seilen zurück, schossen auf Scheiben, legten einen Verletzten in die stabile Seitenlage und beatmeten einen Dummie mit Herzdruckmassage. Wir schätzen die Entfernung vom Waldrand bis zum Nachbardorf und liefen einen Kilometer mit Gasmaske, der wir zuvor das Ventil aufgedreht hatten, denn ersticken wollte niemand. Die beste Gruppe erhielt eine Torte. Wir schlugen unsere Kontrahenten um vierzig Minuten und drei Mann, die sie im Bach verloren. An den anschließenden Festschmaus erinnere ich mich nicht mehr, wir freuten uns auf die Ferien.  
 
Die ordnungsgemäße Vertiefung meiner wehrpolitischen Kenntnisse in der elften Klasse blieb mir – Gorbi sei Dank! – erspart. Das Krieg spielen hatte ein Ende, Wehrpflichtverweigerungen wurden legal. Ein Gutes hatte die Ausbildung vielleicht, vom Orientieren im Gelände mal abgesehen: Die Anekdoten unseres Sommerlehrgangs in Zivilverteidigung sorgen im Freundeskreis immer wieder für gute Unterhaltung.

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