Dienstag, 18. Juni 2013

Kleine Diplomaten


Kann man dem Echo trauen? Was darf man ihm erzählen?
Meine Freundin Christine liebte ihren Kindergarten. Sie war vier und konnte es am Wochenende nicht erwarten, am Montagmorgen mit Brottasche und Sportbeutel von ihrer Mutter im gräulich gescheckten Flachbau Bummi abgeliefert zu werden. Pünktlich um halb zwölf holte ihre Mutter sie wieder ab, denn sie war Mittagskind.
 
Christines größter Traum war es, einmal im Kindergarten Mittag zu essen. Gemeinsam mit allen Kindern an den kleinen Tischchen sitzen, die kleinen Händchen flach neben die Tellerchen gepresst, auf eine Kelle Spinat mit Rührei wartend, die kleinen Gläschen mit süßem Pfefferminztee gefüllt, erschien ihr märchenhaft. Danach auf den klapprigen Klappliegen Mittagschlaf halten, zusammen mit ihren Freunden, im kollektiven Einvernehmen sozusagen, war gewiss etwas Wunderbares. Ein zusammenschweißendes Erlebnis allemal. Und endlich würde sie mal nicht die flüchtigen und mitunter ein wenig neidvollen Seitenblicke der anderen Kinder auf sich ziehen, die ebenso gern Mittagskinder gewesen wären, es aber nie waren. Und die schrill und kurz angebunden brüllten: „Tine, abgeholt.“, sobald Tines Mutter den Kopf zur Tür hineinsteckte, sich dann abrupt abwandten und unbeeindruckt weiter spielten. So als wäre Tini nie beim Puppenspiel dabei gewesen. Das war doch bisweilen sehr verletzend, und sie bat ihre Mutter inständig, sie doch einmal, nur einmal, ein wenig später, vielleicht nach dem Mittagschlafen, abzuholen. „Geht nicht. Du hast nur einen Halbtagsplatz“, erklärte die Mutter dem betrübten Kind.
 
Folglich nutzte Christine ihren halben Tag im Kindergarten umso tatkräftiger. Eifrig machte sie mit bei den Beschäftigungen, die Frau Klusmeier, ihre freundliche Erzieherin, gewissenhaft mit ihren Zwergen durchführte. Christine malte weiße Friedenstauben, die wie lustige Wattebällchen aussahen, schnitt behutsam Blumen aus rotem Buntpapier aus, sang „Kleine weiße Friedenstaube“ und schlug die Klanghölzer dazu exakt im Takt. „Die Vögel und Blumen schenken wir den freundlichen Soldaten der Nationalen Volksarmee“, erklärte Frau Klusmeier, „Sie stehen für uns auf Wacht und schützen den Frieden.“ Das hörte sich bedeutungsvoll an. Und sie trennte sich ohne Widerspruch und nur mit ein bisschen Wehmut von ihren Wattebällchen-Tauben. Christine murrte nie, klagte nie. Ein Vorzeigekind.
 
Eines Morgens saßen alle Kinder im Kreis und Frau Klusmeier fragte mit engelsgleicher Stimme: „Wer weiß denn, wer unser Staatsratsvorsitzender ist?“ Christine meldete sich stürmisch. Sie wusste die Antwort. Na klar. Das weiß doch jeder. Ist ja babyleicht. Den Namen hatte sie schon oft zu Hause gehört, im Fernsehen, und manchmal am Küchentisch. Sie war sich ganz sicher, und stolz platzte sie heraus: „Bundeskanzler Helmut Schmidt.“
 
Frau Klusmeier runzelte leicht die Stirn. Äußerlich blieb sie ruhig. Sie atmete hörbar langsam. Leise und bestimmt sagte sie: „Nein, Christine, das ist falsch. Unser Staatsratsvorsitzender ist Erich Honecker.“ Christine war erschüttert. Verwirrt und ein wenig bekümmert sah sie Frau Klusmeier an. Ihr Blick schien zu sagen: „Sind Sie sich auch ganz sicher, Frau Klusmeier? Ich weiß das aber anders. Sie können ja meine Eltern fragen.“
 
Frau Klusmeier schien unbeeindruckt. „Hier habe ich ein Bild von Erich Honecker für Euch mitgebracht“, flötete sie. „Erich Honecker tut viel Gutes für unser Land. Auch für Euch Kinder. Ihm verdanken wir den Frieden. Und dass es allen Kindern in unserem schönen Land so gut geht und kein Kind Hunger leidet.“ Christine war mucksmäuschenstill. Das mit dem Hunger stimmte wohl, Frau Klusmeier schien sehr überzeugt. Aber das mit dem Staatsratsvorsitzenden? Sie nahm sich vor, zu Hause nachzufragen, was es mit diesem Erich Honecker auf sich hatte. Wieso hatten ihre Eltern ihr nichts von ihm erzählt? Er schien ein Held zu sein. So einer wie Sigmund Jähn, von dem ihre Erzieherin ihnen letzte Woche berichtet hatte. Der war Kosmonaut und für den Frieden in den Weltraum geflogen, hatte Frau Klusmeier gesagt.
 
Am kommenden Tag standen zwei gewichtige Herren in dunklen Mänteln vor Christines Haustür und wünschten ein Gespräch mit ihren Eltern. Sie erkundigten sich mit verkniffenen Lippen, welche Sender denn zu Hause geschaut würden. „Das Fernsehen der DDR,“ erklärten die Eltern ungerührt. Woher denn ihre Tochter den Namen Helmut Schmidt kenne? Und wie sie diesen Menschen für den Staatsratsvorsitzenden halten könne?
 
Oh, tat sie das? Das war uns nicht bekannt. Den Namen habe sie sicher irgendwo, wahrscheinlich im Kindergarten, aufgeschnappt, erklärten die Eltern. Kleine Kinder tun so etwas. Sie hören irgendetwas und plappern es dann nach. Sehr unbedacht, gewiss. Beinahe kriminell. Aber sie wüssten doch, wie das sei mit kleinen Kindern, nicht wahr? Die Herren schauten skeptisch und tuschelten leise. Laut sagten sie, man solle doch häufiger die „Aktuelle Kamera“ mit dem Kind schauen. In den Nachrichten könne man dem Kind unseren Staatsratsvorsitzenden zeigen, und darauf hinweisen, welche wichtigen sozial-politischen Errungenschaften er durchgesetzt hatte. Christines Eltern nickten zustimmend. Natürlich, das sei eine gute Idee. 19.30 Uhr sei ja auch noch nicht zu spät für das Kleinkind. Danach könne es ja gleich einschlafen und morgens um sechs sei es dann wieder munter für den Kindergarten. Sagten die Eltern aber nicht laut. Die Herren hüstelten und verschwanden.
 
Als sie gegangen waren, riefen die Eltern Christine zum vertraulichen Gespräch. Bedeutungsvoll erklärten sie ihr, dass es zwei deutsche Länder gebe. Das eine, in dem sie wohne, heiße DDR und werde von Erich Honecker regiert. Das andere, wo Tante Helga, Onkel Dieter, Tante Gisela und Onkel Karl lebten, heiße Deutschland, und werde von Helmut Schmidt regiert. Das dürfe sie aber nicht im Kindergarten erzählen. Einige Kinder wüssten das nicht und wären sicher traurig, wenn Christine etwas erzähle, worüber die anderen nicht Bescheid wüssten. Im Kindergarten solle sie lieber nur von Erich Honecker sprechen, den würden alle Kinder kennen. Oder zumindest bald kennen lernen. Christine war ein intelligentes Kind und begriff schnell.
 
So wie viele Kinder damals schnell begreifen mussten, was sie wem, wo, wann und warum erzählen durften und was nicht, um sich und ihre Familie politisch zu schützen. Die falschen Worte am falschen Ort zu der falschen Person konnten ungeahnte Konsequenzen haben und im schlimmsten Fall Verwandte und sogar Eltern und Geschwister hinter Gitter bringen. Kinder wuchsen schon im Kindergarten als kleine Diplomaten auf.
 
„Ein Diplomat ist ein Mann, der offen ausspricht, was er nicht denkt“, formulierte der italienische Journalist, Schriftsteller und Ideologiekritiker Giovannino Guareschi. Dessen literarische Protagonisten Don Camillo und Peppone, liebeswerte Antipoden im Clinch zwischen Kirche und Kommunismus, schlitzohrig und schlagfertig gleichermaßen, waren indessen alles anderes als diplomatisch. Diplomatisches Verhalten bescheinigt, laut Wikipedia, den Agierenden „Kompromissbereitschaft und den Willen, die Absichten und Wünsche jedes Beteiligten zu berücksichtigen.“ Also, wenn das nicht genau dem Verhalten der „Diplomaten“-Kinder entsprach. Ihre Antworten kamen voll und ganz den Wünschen aller Beteiligten entgegen, also den Lehrern und Erziehern. Kompromissbereit erklärte Christine sich mit Erich Honecker als Staatsratsvorsitzendem (ein schweres Wort für eine Vierjährige) einverstanden. Treu und auf Linie formulierten wir auch später unsere Aufsätze in Staatsbürgerkunde und Deutsch, die Anregungen unserer Lehrer aufgreifend und phantasievoll ausschmückend.
 
Sicher hätte Frau Klusmeier auch anders reagieren können als gleich der Familie die Stasi auf den Hals zu hetzen. Ein stilles Schmunzeln, ein wissendes Lächeln über „Kindermund tut Wahrheit kund“ wäre vielleicht angebrachter gewesen. Doch wer weiß, wie es ihr ergangen wäre, hätte sie so nachgiebig, ja sogar nachlässig reagiert. Wie lange noch wäre ihr als Pädagogin im Kindergarten Bummi die Erziehung der Kleinsten anvertraut worden? Die Augen und Ohren „unseres“ Staatsratsvorsitzenden waren überall. Und die seiner Ehefrau Margot, seit 1963 (bis 1989, lange sechsundzwanzig Jahre) Volksbildungsministerin. Ihr lag die politische Bildung der Kleinsten besonders am Herzen, ihr politischer Druck war kompromisslos und mächtig. In ihrem sozialistisch-dogmatischen Bildungssystem wollten und mussten wir bestehen. Chancengleichheit hin oder her. Reine Idealisierung. Es gab keine individuelle, leistungsabhängige, ideologiefreie Förderung, keinen Schulerfolg entsprechend persönlicher Begabungen. Nicht an der Polytechnischen Oberschule. Was es gab war Langeweile für leistungsstarke und Überforderung für leistungsschwache Schüler im Gleichmacher-Schulsystem. Wenn ich in diesem System bestehen und die Oberschule besuchen und studieren wolle, erklärten mir meine Eltern frühzeitig, dann müsse ich in der Schule sagen, was die Lehrer hören wollten, und nicht, was ich selber dachte oder gar die politischen Überzeugungen unserer Familie widerspiegelte.
 
Ähnlich wie Christine lernte auch ich früh zu unterscheiden, was ich wem erzählen durfte und was ich besser für mich behielt. In der ersten Klasse rieten meine Eltern mir, nicht jedem zu erzählen, dass ich die Christenlehre besuche, denn das würde meine Aussichten auf einen Platz an der Erweiterten Oberschule und das Abitur stark beeinträchtigen. Ich sollte möglichst nicht über Sendungen im Westfernsehen sprechen, die ich zu Hause schaute. Selbst wenn der Samstagabendfilm auf ARD Thema in der Hofpause wäre, sollte ich mich zurück halten. Das war manchmal schwierig, in einigen Fällen allerdings für das Erhalten von Freundschaften durchaus vorteilhaft. Da hatte ich die schnulzig-schöne Weihnachtsserie Silas auf ZDF gesehen und konnte nicht mit meiner Freundin Andrea über Patrick Bachs zuckersüße Frisur quatschen, denn Andrea hatte kein Westfernsehen, da ihre Mutter Richterin war. Sie hätte nicht mitreden können, und wer weiß, wie weit sich ihre Kenntnisse über meine Westfernsehgewohnheiten herumgesprochen hätten. Westfernsehen war mir (im Gegensatz zu ihr) zwar nicht verboten, doch von Staatsseite her auch nicht gern gesehen. Das konnte einem schon den Spaß am Fernsehen wenn nicht verderben, so doch beeinträchtigen.
 
Ich sollte nicht darüber reden, dass meine Oma Pakete aus dem Westen geschickt bekam. Fragten meine Klassenkameraden nach der Herkunft meiner schicken Nikis und Jeans (die neueste Mode aus dem Westen trugen wir einige Jahre später, wenn die Kleidung dort, weil unmodisch, abgelegt wurde), sollte ich antworten, mein Vater hätte sie aus dem Ausland mitgebracht. Da er zur See fuhr, wäre das für ihn generell möglich gewesen, wäre es denn um seine Devisen besser bestellt gewesen. Natürlich konnte ich nicht sagen, meine Mutter hätte die Jeans im Modeladen Exquisit gekauft, denn Stonewash Jeans gab es auch dort nur in einer einzigen Ausführung. Solche Jeans gab es nicht im Osten. Höchstens in Ungarn. Mit Angebot und Marken kannten wir uns aus.
 
Am deutlichsten schärften meine Eltern mir ein, gewisse private Informationen und Gesprächsthemen unter allen Umständen für mich zu behalten. Welche, dafür entwickelte ich mit zunehmendem Alter ein untrügliches Gespür. Als Kind hätte ich sicher nicht verstanden, warum Kollegen von meinem Vater sich im Nord-Ostsee-Kanal vom Schiff abgesetzt hatten, und sie nun vielleicht ihre Kinder zu Hause nie wieder sehen würden.
 
Ich wurde Diplomat. Ich lernte, mit wem ich über Weihnachtsserien diskutieren konnte, und mit wem nicht. Mit wem ich über Klamotten und Westpakete sprechen konnte und mit wem nicht. Mit wem ich über Religion sprechen konnte. Und mit wem nicht. Ich lernte, wem ich Geheimnisse anvertrauen konnte. Und wem auf keinen Fall.
 
Auch wenn uns in frühester Jugend noch nicht wirklich klar war, was eine mögliche Missachtung dieser Rederegeln für uns bedeuten konnte. Das war in den Fünfziger Jahren anders. Meine Mutter wuchs in ständiger Angst auf, ihr Vater könne von Männern in schwarzen Igelit-Mänteln abgeholt werden und nicht mehr heimkommen, falls sie nur etwas Falsches sagte. Oft genug geschah es, dass Menschen einfach verschwanden. In den Siebzigern lernte ich diese Angst nicht mehr kennen. Gleichwohl war mir bald sonnenklar, dass falsche Äußerungen Konsequenzen hätten. Vor allem bei meiner Ausbildung, mahnten meine Eltern.
 
Hatte dieses „diplomatische“ Verhalten Auswirkungen auf unseren gesunden Menschenverstand? Lebten wir dabei nicht in ständigem Argwohn? Wurden wir da nicht schizophren? Nein. Man verlernte vielleicht zu sagen, was man wirklich dachte oder behielt es einfach für sich. Man baute vielleicht eine zynische Distanz zu gewissen Themen auf. Die aber kommt uns heute auch zugute – in einer Zeit, in der Distanz en vogue und Zynismus populär ist, in der wir zynische Distanz zur eigenen Geschichte und Kultur täglich erleben. Unsere „Diplomatenausbildung“ ist uns auch im Beruf von Nutzen. Wir sind vorsichtiger, kompromissbereiter, überlegter mit unseren Äußerungen, vor allem Autoritäten gegenüber, was aber nichts mit Feigheit oder Unehrlichkeit zu tun hat. Wir sind lediglich ein wenig feinfühliger für anderer Menschen Geltungsbedürfnis und Arroganz. Und erlauben ihnen ihre Absichten und Wünsche, frei nach der Devise: „Der Diplomat schafft den Spagat.“

Sonntag, 9. Juni 2013

Kindergarten, Schweinebraten: Kindergartenalltag in der DDR


Am 1. September 1977, drei Monate nach meinem fünften Geburtstag, änderte sich mein fröhliches Kinderleben schlagartig. Ich kam in den Kindergarten. War ich bis dahin der Kinderkrippe und dem langen Arm der sozialistischen Erziehung entgangen (ich verbrachte bis dahin meine Tage bei meiner Oma, während meine Mutter arbeitete), so sollte ich nun in den Genuss der Vermittlung einer sozialistischen Moral kommen und unter Aufsicht des Ministeriums für Volksbildung zur Schulreife geführt werden. Als erste Stufe des zentralen Bildungssystems nahm der Kindergarten nicht nur den werktätigen Müttern tagsüber die Kinderbetreuung ab und verhalf ihnen dazu, gleichberechtigter Teil der Gesellschaft zu sein. Als vorschulische Erziehungseinrichtung war er auch dem strengen Regime Margot Honeckers untergeordnet. Hier begann die Formung des guten sozialistischen Bürgers. Dafür sorgte der Staat mit kostenlosen Kindergartenplätzen für 98 Prozent aller Drei- bis Sechsjährigen.
 
Meine Mutter hatte im Kindergarten „Storchennest“ im zwei Kilometer entfernten Nachbardorf einen Platz zugewiesen bekommen -- für mich nicht nur räumlich unendlich weit von meinem Zuhause entfernt. Das alte Siedlerhaus mit Wiese und Spielplatz war ab jetzt zehn Stunden täglich mein Domizil. Drinnen zwei Gruppenräume, ein schmaler Flur mit schmalen Garderobenleisten und schmalen Bänken, ein braungefliester Waschraum und Küche. Alles war klein und übersichtlich. Für mich allerdings irgendwie unüberschaubar. Wie beneidete ich den Storch in seinem Nest auf dem Dach. Er hatte den freien Überblick und konnte fliegen, wohin er wollte.
 
Ein typischer Kindergartentag begann für mich dunkel und kalt und mit Bauchschmerzen. War ich das gesamte Wochenende kerngesund und mopsfidel, so stellte sich pünktlich am Sonntagabend wie auf Bestellung ein erstes Zwicken in der Magengegend ein. Am Montagmorgen um halb sechs war ich krank, denn eine Woche Kindergarten lag vor mir. Doch so sehr ich mich auch weinend an meiner Mutter festklammerte, es half nichts. „Kind, sei doch vernünftig.“ Und ich war vernünftig. Schließlich war ich „die Große“.
 
Ich ließ mir die grüne Brottasche aus derbem Schweinsleder um den Hals hängen und marschierte schluchzend und allein, meine Tränen tapfer unterdrückend, die fünfhundert Meter bis zum Konsum. Dort wartete ich zusammen mit anderen Kindern aus dem Dorf auf einen zum Bus umfunktionierten LKW unserer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, kurz LPG, der uns um sechs Uhr abholte. Meine Mutter beteuert zwar, sie habe mich manchmal mit dem Auto gefahren, aber diese Glücksmomente sind meinem Gedächtnis entschwunden. Manchmal fuhr mich auch meine Oma auf dem Fahrrad zum Konsum und der Tag begann nicht ganz so dunkel, aber immer noch grau.
 
Der Tagesablauf war stets der gleiche, schriftlich von den Erzieherinnen geplant und bis ins Detail geregelt, um gut vorbereitet zu sein und ihre Pädagogik unter einheitlichen Gesichtspunkten zu durchdenken. Nichts blieb dem Zufall überlassen. Hatten sie doch den Nachwuchs gemäß Lehrplan so zu lenken, dass Wissen, Können und Verhalten, das wir Kinder uns aneigneten, den angestrebten gesellschaftlichen, zentral festgelegten Zielen entsprach. Kinder, gemäß den damaligen aktuellsten psychologischen und pädagogischen Erkenntnissen als unfertig und defizitär angesehen, waren eher pädagogisches Objekt als Subjekt ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Erst durch Arbeit und Spiel, gewöhnlich unter Anleitung, reiften sie.
 
Morgens vor dem Frühstück hatten wir Zeit zum freien Spielen. In geregeltem Rahmen, versteht sich, und in begrenztem Umfang. Ich saß an einem kleinen Tischchen im Gruppenraum und malte konzentriert und versunken Ostereier und Blumenwiesen. Ich hatte keine Lust, mit den anderen Kindern zu bauen oder Puppenfamilie zu spielen. Zum Frühstück aßen wir unsere mitgebrachten Wurstbrote und tranken süßen Pfefferminztee. Danach war Schluss mit Individualismus und wir gingen zur Gruppenarbeit über.
 
In der Gruppe malten wir gleichfalls Blumenwiesen, aber mit Instruktionen und thematischen Schwerpunkten. Wir malten Frühlingsbilder, Kinder bei der Hausarbeit mit Wischeimer und Schrubber, Werktätige in den Betrieben oder Soldaten und Panzer. Wobei die Erzieherin genau darauf achtete, wie und in welcher Hand wir den Stift hielten und dass wir nicht über Konturen hinaus malten. Wir bastelten Friedenstauben und Windräder, kneteten Tiere und Traktoren, verglichen Mengen von bunten Stäbchen und stapelten Gefäße nach ihrer Größe.
 
Wir sangen auch viel, konform zum Lehrplan. Denn Singen stand „im Dienste der sozialistischen Erziehung“, wie im Liederbuch für die Vorschule Sputnik, Sputnik, kreise angemerkt. Folglich stehe, so das Vorwort, „das Gegenwartslied“ im „Vordergrund der Singearbeit“ und „überliefertes Liedgut“ sei „sorgfältig auszuwählen und anzuwenden“. Kapitel Eins des beliebten Liederbuches „Wisst ihr, was ich werden will“ widmete sich Liedern „vom sozialistischen Aufbau in Stadt und Land, von den Helfern bei der Arbeit, von Kran und Bagger, von Traktor und Kombine, von den Berufen der Eltern, von den Soldaten unserer Volksarmee, von Auto, Feuerwehr, Eisenbahn und Sputnik; Lieder vom Handwerk, von Bäcker, Schneider, Schuster, von Maurer, Tischler, Schlosser, Schmied und Schornsteinfeger.“
 
Wir sangen fröhlich „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht“, „Der Volkspolizist“ oder „Mein Bruder ist Soldat im großen Panzerwagen, und stolz darf ich es sagen: Mein Bruder schützt den Staat, meiner Bruder schützt den Staat.“ Um schließlich auch, laut Lehrplan, „freundschaftliche Gefühle zu den Soldaten der NVA“ herauszubilden. Dazu schlugen wir Triangel, Trommel und Klanghölzer. Wäre mein Vater Panzerführer gewesen, hätte ich sicher mit noch mehr Inbrunst mitgeträllert. Doch es gab kein zeitgenössisches Liedgut über Ingenieure, Juristen, Ärzte oder Kapitäne.
 
Auf unsere Gesundheit wurde besonders geachtet. Ein fester Tagesablauf, Bewegung, frische Luft, gesunde Ernährung und Körperpflege sollten unserem Nervensystem und Organismus nachweislich gut tun. So putzten wir nach dem Mittagessen gemeinschaftlich unsere Zähne, schulten durch Turnübungen gezielt unsere motorischen Fähigkeiten und machten Fußgymnastik mit einem Stofftaschentuch, das wir zwischen unsere Zehen klemmten. Meine Mutter als Orthopädin fand diese Übung ausgezeichnet. Auf Spielplatz und Wiese spielten wir Fangen, pflückten Löwenzahn, um aus den Blüten dunkelbraunen, bitter-süßen Honig zu kochen, und futterten Taubnesselblüten und Sauerampfer. Das behauptete jedenfalls Tommi, der frechste Junge meiner Gruppe, der sich als Spezialist für Kräuterkunde ausgab. Ich weiß bis heute nicht, wie Sauerampfer aussieht und was wir tatsächlich aßen.
 
Nach dem Mittagessen machten wir Mittagschlaf auf Klappliegen. Manchmal las uns eine engagierte Kindergärtnerin eine Geschichte vor. Eine weniger engagierte Aufpasserin befahl uns zu schlafen und wachte wie ein Luchs über unsere Bewegungen. Schon nach zwei Minuten konnte ich nicht mehr in der gewählten Schlafposition liegen und versuchte, meinen Arm zu verdrehen oder – das grenzte an Tollkühnheit – mich umzudrehen. Sofort ermahnte sie mich: „Kind, lieg still!“ Besonders qualvoll war es, wenn mein Bein juckte und ich es unbedingt kratzen musste. An Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Meine Gedanken kreisten darum, wie ich dem Juckreiz, der an Intensität zunahm, Einhalt gebieten konnte, ohne dass die Aufpasserin es sah. Nach minutenlangem Ausharren wagte ich mutig ein Kratzmanöver. Und erntete prompt einen Aufschrei der Empörung: „Kind, lieg endlich still und schlaf! Und versuche nicht noch einmal, auch nur deinen kleinen Finger zu bewegen. Ich sehe alles!“
 
Dieses paramilitärische Verhalten konnte nicht den staatlich ausgebildeten Aufpasserinnen angelastet werden, die sich stets um das Wohlergehen und die Erziehung von uns Kindern bemühten. Es war einzig und allein den Umständen, genauer gesagt, der Beschaffenheit der Klappliegen geschuldet. Die Liegeflächen unserer Betten waren nämlich aus Pappe, die bei der kleinsten Erschütterung ausbrach, und der Hausmeister kam mit den Reparaturen nicht mehr hinterher.  
 
Manchmal hatten wir Glück und unsere Erzieherin zog sich zur wohlverdienten Kaffeepause mit ihren Kolleginnen zurück und ließ uns Fünfjährige unbeaufsichtigt. Tommi erzählte dann eine seiner Geschichten von betrunkenen Hühnern, tollwütigen Hunden oder dreisten Kinderfängern im Dorf. Ich hatte furchtbare Angst und meine Mutter Mühe, mir zu erklären, dass Tommi eine rege Fantasie habe und es bestimmt keinen Kinderfänger gäbe. Womit sie sicher Recht hatte. Wir spielten auch Fusselverkauf, indem wir Fussel von unseren Decken abzupften und an andere Kinder weiter gaben. Während einige Jungen wagemutig von Fusselstand zu Fusselstand sprangen, um schnell unter ihre Decken zu schlüpfen, wenn die Erzieherin nahte (und damit den Zusammenbruch ihrer Liegen riskierten), bewegte ich mich nicht von meiner Liege weg. Das war ja schließlich nicht erlaubt!
 
Überhaupt hielt ich mich an Verbote und Vorschriften. Nicht weil ich unbedingt Angst vor den Folgen des Vergehens hatte, sondern weil ich so erzogen war. Ich redete nicht dazwischen, wenn Erwachsene sich unterhielten, ich wusch mir vor dem Essen die Hände, aß mein Mittag auf und befolgte auch sonst geflissentlich die Anweisungen der Erzieherinnen. Eine mitfühlende Erzieherin schenkte mir für so viel Vorbildleistung eine Storchenfeder, die vom Nest gefallen war. Wohl auch, um mich zu ermutigen, ein wenig meine Schüchternheit abzulegen. Tommi schien es nichts auszumachen, wenn er wieder mal in der Ecke stehen oder seine Strafzeit auf dem Flur absitzen musste, nachdem er sich mit Frank geprügelt hatte. Solche Strafen waren normal. Konflikte zwischen den Kindern hatten die Erzieherinnen sofort im Ansatz zu unterbinden. Konfliktbewältigung stand anscheinend nicht auf dem Lehrplan.
 
Zur umfangreichen Erziehung von Vorschulkindern gehörte es auch, uns mit der Arbeit der Werktätigen in den Betrieben vertraut zu machen. Um den Wert der Arbeit für die Gemeinschaft kennen und achten zu lernen, eine Vorstellung vom gesellschaftlichen Leben zu bekommen und das „sozialistische Heimatland“ lieben zu lernen. Während Stadtkinder eine große Auswahl volkseigener Betriebe vor der Haustür hatten, besuchten wir die LPG im Dorf. Die Genossenschaftsbauern zeigten uns Mähdrescher und Traktoren, und die Jungen waren schwer beeindruckt und wussten, dass sie auch einmal Mähdrescherfahrer werden wollten.
 
Die Vorschulgruppe durfte im Frühling sogar die „Gelbe Hummel“ besichtigen. Das war das gelbe Düngemittelflugzeug unserer LPG, das chemische Giftstoffe zur Kartoffelkäferbekämpfung auf die Felder streute. Wir Kinder kannten sie gut und riefen laut „Die Gelbe Hummel“, wenn sie über unsere Häuser und Gärten flog. Jedes Flugzeug, egal wie groß, war eine Sensation. Hand in Hand und in Zweierreihe spazierten wir zur Landebahn der Hummel am Dorfrand, einem holprigen Plattenweg aus Beton, mitten im Getreidefeld versteckt. Hier übte ich später Moped und Auto fahren. Genosse Michalek, Bauer und Pilot, begrüßte uns und zeigte uns das Herz der Hummel, erklärte uns geduldig alle Schalter und Hebel und erlaubte uns, kurz auf dem Pilotensitz Platz zu nehmen. Sogar Tommi war für den Bruchteil einer Sekunde mucksmäuschenstill und fasziniert. Pilot stand ganz weit oben auf der Berufswunschliste vieler Jungen und würde dort auch bleiben.
 
Unser Kindergartenjahr war gespickt mit Höhepunkten. Zu Weihnachten kam der Weihnachtsmann mit Larve und Bart. Wir sagten Gedichte auf und erhielten Schokoladenweihnachtsmänner und neues Spielzeug für unsere Gruppe. Zum Fasching verkleideten wir uns als Rotkäppchen, Cowboy, Indianer, Ungarin und Clown und schmückten unsere Gruppenräume mit selbst gebastelten Girlanden und Luftballons, die es auf Zuteilung für Kindergärten gab, und zu nationalen Kampf- und Feiertagen sangen wir die einstudierten Lieder aus dem ff.
 
Jeden Abend um siebzehn Uhr brachte mich der LKW-Bus wieder in mein Dorf zurück. Mein Weg vom Konsum nach Hause war im Winter besonders lang und dunkel. Die funze
lige Straßenbeleuchtung fiel häufig aus. Einmal schneite es stürmisch. Ich saß am Busfenster, schaute auf die schneebedeckten Felder, hörte den Wind fauchen und überlegte angestrengt, wie ich bei dem Wetter nach Hause kommen sollte? In Gedanken versunken merkte ich nicht, als der Bus auf der Landstraße hielt und jemand nach mir fragte. Es dauerte eine Weile, bis ich reagierte. Und schließlich strahlte ich, als mein Opa vor mir stand, gekommen, um mich bei dem Schneegestöber abzuholen. Ein Lichtblick in dunkler Zeit.
 
Zwei Jahre ertrug ich den Kindergarten. Auf Anraten einer kompetenten Erzieherin – „Da hat sie ein Jahr weniger zur Rente“ – entschieden sich meine Eltern gegen eine vorzeitige Einschulung. Der Stichtag zur Einschulung war der 31. Mai. Meine Mutter tröstete mich: „Nicht mehr lange und du kommst in die Schule.“ Ich harrte aus. In gespielter, glücklicher Kindergemeinschaft. Und entwickelte schon damals gewisse Ressentiments gegen gelenkte Freizeitbeschäftigung. Wohl, weil ich zu lange zu individualistisch aufgewachsen war. Bei Oma hatte ich ausschlafen, spielen, malen und kneten dürfen, was meiner Fantasie entsprang, und zu Mittag die leckersten Gerichte aus Omas Küche gegessen. Nun stand ich morgens um halb sechs auf, knetete nach Vorschrift und musste grundsätzlich alles aufessen, was auf den Teller kam. Zwar konnten wir durchaus unsere individuellen Fähigkeiten und Neigungen, Vorstellungen und Bedürfnisse entwickeln – soweit sie der Gemeinschaft nützten. Wir sollten uns im Kollektiv wohl fühlen und das Bedürfnis entwickeln, freundschaftlich allen dienlich zu sein. Unsere Selbstverwirklichung und individuellen Bedürfnisse sollten wir dem großen Ganzen unterordnen, nach der Doktrin: Was für die Gruppe gut war, war auch für den Einzelnen gut. Ich fühlte mich eher verraten und verkauft, frei nach dem alten Spruch meines Opas, „Kindergarten, Schweinebraten, hat die ganze Welt verraten.“

Sonntag, 2. Juni 2013

Ein Kessel Buntes, Elvis und meine Geburt: Das Jahr 1972

Der 10. Juni 1972 war ein Samstag. Die Sonne lachte am blauen Frühlingshimmel über der Rostocker Altstadt und die Vögel zwitscherten in der wuchtigen, mit einem dichten rosa Blütenschleier überzogenen Magnolie vor der altehrwürdigen Frauenklinik. Die Straßenbahn bimmelte wie zum Gruß vor dem Backsteingebäude und ein sanfter Geruch von gekochten Kartoffeln und Hefe von der Rostocker Brauerei lag in der Luft.
 
Astrid lag mit neun anderen Frauen in Saal Nummer Drei auf der Entbindungsstation. Neun Frauen in einem Zimmer – das war laut, aber es hatte seine Vorteile. So war auf jeden Fall eine unter ihnen, mit der Astrid sich gern unterhielt. Durch das gesamte Zimmer, wenn es sein musste, und in entsprechender Lautstärke, aber angeregt. Die Neugeborenen bekamen vom Gesprächslärm nichts mit, denn sie standen im Säuglingssaal am Ende des Ganges. Zu den Stillzeiten brachten rosa gekleidete Schwestern die zerknautschten Würmchen und die Frauen legten sie an ihre Brüste. Eine rigorose Stillschwester machte die Runde und half, wenn es mit dem Stillen nicht klappte.
 
An diesem 10. Juni meldeten Meteorologen in Madison, USA, den spätesten Frost aller Zeiten. In Rapid City, Süddakota, lösten Orkane eine Flutwelle aus, bei der 237 Menschen starben. In Washington legte Präsident Richard Nixon dem Senat das Abrüstungsabkommen SALT I mit der Sowjetunion zur Ratifizierung vor, während sich am anderen Ende der Stadt, im Hauptquartiert der NASA, Raketentechniker Wernher von Braun in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedete. Und in New York City gab Elvis Presley sein erstes Konzert in der Metropole, vor einer tobenden Menge im ausverkauften Madison Square Garden, und sogar John Lennon und Bob Dylan zollten dem King begeistert Beifall.
 
All diese Vorkommnisse geschahen weit weg von dem weiß getünchten Kreissaal der Frauenklinik in Rostock und hätten sich ebenso gut auf einem anderen Planeten zutragen können. Denn selbst wenn sie einen Fernseher in ihrem Saal gehabt hätten, woran damals noch nicht zu denken war, hätten Astrid und ihre Zimmergenossinnen von den meisten dieser Ereignisse nichts in den abendlichen Fernsehnachrichten erfahren. Stattdessen berichtete die „Aktuelle Kamera“, die tägliche Nachrichtensendung um 19.30 Uhr, vom XI. Bauernkongress in Leipzig und der Planerfüllung in der Landwirtschaft. In Ausschnitten wurde eine Routineansprache des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker in der Volkskammer gezeigt. Worum es ging, war unerheblich, wichtig war der Beifall. Der dauerte drei Minuten und wurde in ganzer Länge und mit Großaufnahmen lächelnder Abgeordneter gezeigt. Von Amerika war keine Rede. Das war damals nicht weiter auffällig, denn 1972 pflegte die DDR keine diplomatischen Beziehungen zu den USA. Kurz und knapp und monoton, aber wie immer grammatikalisch kompliziert und langatmig, um den Eindruck intelligenter Analyse zu erwecken, berichtete die Nachrichtensprecherin von der Baader-Meinhof Gruppe, die an jenem Samstag in der westdeutschen Botschaft in Dublin einen Sprengsatz setzte, aber glücklicherweise niemanden verletzte. Es war ein Tag wie jeder andere. Keine besonderen Vorkommnisse, keine besonderen Nachrichten.
 
Am jenem Samstag, den 10. Juni 1972, um zwei Uhr nachts, erblickte ich das Licht der Welt. Drei Tage zu früh und für meine beschäftigte Mutter durchaus überraschend. Sie hatte mich mit einer Magenverstimmung verwechselt. Doch bei der ersten Schwangerschaft kann das selbst einer angehenden Ärztin schon mal passieren, auch wenn man sich noch so umfangreich belesen hatte wie meine umsichtige Mutter.
 
Am Freitagmorgen krümmte sich meine Mutter vor Bauchschmerzen. „All das schwere Essen gestern“, dachte sie, „Mutti hat es wieder mal zu gut mit mir gemeint.“ Am Tag wurde es nicht besser, und nach dem Abendbrot ging Astrid zur Nachbarin. Die war Ärztin und konnte sicher helfen, denn mittlerweile kamen die Krämpfe alle fünfzehn Minuten. „Das ist keine Magenverstimmung“, klärte diese sie auf, „das sind Wehen.“ Na, da sollte mal einer drauf kommen. Die hätten erst doch in einigen Tagen einsetzen sollen, so hatten es Ärzte und Hebammen jedenfalls errechnet.
 
Astrid stöhnte und jammerte immer lauter. Nach einer halben Stunde wurde es ihrem Bruder, der gerade die Hecke vor dem Haus stutzte, zu bunt. „Ich rufe jetzt den Krankenwagen“, sagte er kurzentschlossen. Zielstrebig ging er zum Nachbarn gegenüber, denn der hatte ein Telefon. Wieso er ein Telefon hatte – ein Privileg, das nur Wenigen in der DDR vergönnt war –,  war nebensächlich, im Notfall musste eben ein Stasi-Telefon herhalten.
 
Zur gleichen Zeit im Madison Square Garden in New York City bereitete sich Elvis auf seinen Auftritt vor. Eine freundliche Blondine half ihm in seinen himmelblauen Adonis-Samtanzug, rieb ihm sanft Pomade ins Haar und schminkte seine Augen. Eine eifrige Schwester half derweil Astrid in ein hellblaues Nachthemd, begleitete sie zu ihrem Bett und fragte nach dem Befinden. Astrid stöhnte. Elvis betrat die Bühne; die Massen schrien. Und während der King „Love me tender“ ins Mikrofon hauchte, seine Hüften rollte und hunderte Fans kreischend in Ohnmacht fielen, stöhnte und schrie Astrid noch lauter, bewegte ihre Hüften noch schwungvoller und fiel beinahe selbst vor Schmerz und Anstrengung in Ohnmacht. Nur flüchtig dachte sie an Klaus, ihren Ehemann, der in diesem Augenblick auf einem Frachter am Nordkap schipperte.
 
Dann war es geschafft.
 
Elvis verließ umjubelt die Bühne, und ein neuer Erdenbürger betrat die Bühne der Welt. Astrid hatte ein zierliches, gesundes Mädchen geboren. Das war ich.
 
Zwei Tage später lag Astrid noch immer im Klinikbett und kämpfte mit den Tränen. Ihr Baby wollte nuckeln, aber die Milch kam nicht. Da konnte nur die Stillschwester helfen. Die aber hatte Urlaub und Astrid blieb nichts anderes übrig als in der Klinik zu bleiben und zu warten. Warten tat auch Klaus, sehnlich und voller Aufregung auf den versprochenen Landgang. Mittlerweile war er mit seinem Schiff im Rostocker Überseehafen eingelaufen, konnte aber nicht von Bord und in einigen Tagen schon würde er wieder auslaufen und erst in zwei Monaten nach Rostock zurückkehren. Astrid versuchte Klaus anzurufen, was erst nach Stunden möglich war. Sie hinterließ meinem Vater die Nachricht über meine Geburt, die er tatsächlich 22,5 Stunden später erhielt.
 
Meine Mutter war eine Spätgebärende. Meinte zumindest die Hebamme, obwohl sie gerade fünfundzwanzig war. Doch in der DDR bekam die Durchschnittsschwangere ihr erstes Kind mit spätestens zwanzig. Das Medizinstudium hatte meine Mutter aufgehalten, was aber auch Vorteile brachte, denn im April hatte das Zentralkomitee der SED, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (der machthabenden Partei in der DDR), neue sozialpolitische Maßnahmen beschlossen. Ab sofort gab es ein „Begrüßungsgeld“ für jeden neugeborenen DDR-Bürger in Höhe von eintausend Mark. Perfektes Timing sozusagen; das Geld konnten Astrid und Klaus für ihre erste Wohnungseinrichtung gut gebrauchen.
 
Sieben Tage nach meiner Geburt wurden Mutter und Kind entlassen. Am gleichen Tag brachen in Washington D.C. Männer ins Watergate-Gebäude ein und wurden festgenommen. Während Nixon alles tat, um nicht diese Affäre verantworten und aus dem Weißen Haus ausziehen zu müssen, zog ich in das Kellerzimmer meiner Mutter bei meinen Großeltern ein. Sie begrüßten mich herzlich. Nur mein Opa konnte sich partout nicht mit meinem Namen anfreunden und wollte meiner Mutter nur allzu gern das nötige Geld geben, um ihn ändern zu lassen, möglichst in einen der gängigen Namen in der DDR, die 1972 Daniela, Manuela, Andrea, Sandra, Claudia, Anja und Jana lauteten. Aber Astrid blieb hart. Es hatte sie viel Mühe und Zeit gekostet, den Namen auf dem Standesamt durchzusetzen. Einen Monat hatte es gedauert, bis ein Leipziger Linguist bestätigte, dass es sich bei meinem Vornamen tatsächlich um einen Mädchennamen französischer Herkunft handelte. Aber die Schutzpatronin der Hauptstadt Frankreichs, Sainte Geneviève, deren Namen ich trug, war weit entfernt von den Standesämtern Ostdeutschlands und deren offiziellen Namensbüchern.
 
Im August lernte ich meinen Vater kennen. Er hatte endlich Urlaub. Liebevoll hielt er mich im Arm und kuschelte ausgiebig mit mir. Während ich ihn und seine Uniform interessiert betrachtete, schaute die Welt gebannt auf München, Austragungsort der XX. Olympischen Sommerspiele, und reagierte geschockt auf ein Attentat auf die israelische Olympiamannschaft. Trotz gescheiterter Geiselbefreiung gingen die Spiele weiter und „unsere“ DDR-Athleten kehrten mit 20 Gold-, 23 Silber- und 23 Bronzemedaillen heim und mit Platz drei im Gesamt-Medaillenspiegel, nach der Sowjetunion und den USA. Erich Honecker schüttelte stolz „seinen“ Olympioniken die Hände, allen voran Hochsprung-Goldmann Wolfgang Nordwig und der fünffachen Medaillengewinnerin Karin Janz. 1972 war auch das Jahr der Fußballeuropameisterschaft, in dem mit einem 3:0 Sieg über die Mannschaft der UdSSR in Brüssel das bundesdeutsche Team Europameister wurde, und wie alle DDR-Bürger hatten auch mein Vater und seine Mannschaft auf See für die Deutschen mit gefiebert.
 
Voller Stolz präsentierten meine Eltern mich meinen Urgroßeltern. Mit zweieinhalb Kilo war ich ein zartes Kind und meine Uroma bezweifelte ernsthaft, dass aus mir jemals etwas werde. „Dat isch man so lütt. Ut de wat scho gonix“, meinte sie, was meine Mutter kränkte. Ich war tatsächlich so klein, dass meine Oma mein erstes Mützchen selbst nähte, denn so kleine Babykleidung gab es nicht. Aber ich wuchs, wozu ich viel Zeit hatte, denn 1972 war das längste Jahr des Gregorianischen Kalenders: als Schaltjahr war es einen Tag und zwei Sekunden länger als üblich.
 
So bot das Jahr auch viel Zeit für weltpolitische Ereignisse. 1972 war das Jahr von Apollo 17, dem ersten Taschenrechner HP-35 und dem Start der Serie Raumschiff Enterprise im westdeutschen Fernsehen. Der deutsche Playboy eroberte die Männerherzen im Westen und, unter der Hand und mit Beziehungen, auch im Osten, Heinrich Böll erhielt den Literaturnobelpreis und Charles Chaplin den Ehren-Oscar für seine Verdienste um die Filmkunst. Es war ein Jahr der Bombenanschläge der RAF und der Verhaftung von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, ein Jahr der Flugzeugabstürze über London, Teneriffa, Moskau, Miami, Uruguay und über Königs-Wusterhausen. Es war ein Jahr der Erdbeben in Iran und Nicaragua, ein Jahr der Flutwellen und Orkane in den USA und Niedersachsen, und das Jahr der Entführung einer Lufthansa-Maschine durch arabische Terroristen im Südjemen, an die die Bundesregierung fünf Millionen US-Dollar Lösegeld zahlte.
 
1972 war auch ein Jahr der Abgrenzungen. Die DDR kämpfte noch immer um weltweite Anerkennung, bis am 26. Mai der Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR unterzeichnet wurde, der die Unverletzlichkeit der Grenzen, die Anerkennung der Vier-Mächte-Verantwortung, die Beschränkung der Hoheitsgewalt auf das jeweilige Staatsgebiet und den Austausch „ständiger Vertreter“ festschrieb. So gestärkt bezeichnete Honecker die Bundesrepublik prompt als „imperialistisches Ausland“ und legitimierte vier Monate später den Schießbefehl. An der „Staatsgrenze West“ wurden Schutzstreifen und Sperrzonen festgelegt und die Anwendung der Schusswaffe durch die DDR-Grenztruppen gemäß den Bestimmungen des Ministeriums für Nationale Verteidigung für zulässig erklärt. Ende des Jahres kam schließlich auch die Schweiz nicht mehr umhin, die DDR als eigenständiges Land anzuerkennen.
 
Ich wuchs und gedieh derweil prächtig und mein Opa organisierte ein Laufgitter, in dem ich meine ersten Stehversuche unternahm. Ich zog mich mühsam an den bunten Gitterstäben hoch, betrachtete neugierig unser Wohnzimmer aus dieser faszinierenden Perspektive und versuchte angestrengt und ausdauernd, über die Absperrung zu klettern. Während ich die Grenzen meines Laufgitters irgendwann würde überwinden lernen, würde ich aufwachsen in dem Bewusstsein, in einem eigenständigen deutschen Staat zu leben, dessen Grenzen klar definiert und unüberwindbar waren.
 
Ein wenig Westluft jedoch wehte über den Äther zu uns herüber. Während das DDR-Fernsehen 1972 erstmals die Erfolgsshows „Ein Kessel Buntes“ und „Außenseiter, Spitzenreiter“ ausstrahlte und im Transistorradio auf DT 64 Frank Schöbel den Hit „Gold in deinen Augen“ hauchte, hörten meine Eltern NDR 2, wo Tony Christie „Is This the Way to Amarillo?“, Middle of the Road „Sacramento“ und Christian Anders „Es fährt ein Zug nach Nirgendwo“ sangen. Derweil schlief ich friedlich in meinem Körbchen schlief und träumte vielleicht von einem Land ohne Grenzen.