Dienstag, 18. Juni 2013

Kleine Diplomaten


Kann man dem Echo trauen? Was darf man ihm erzählen?
Meine Freundin Christine liebte ihren Kindergarten. Sie war vier und konnte es am Wochenende nicht erwarten, am Montagmorgen mit Brottasche und Sportbeutel von ihrer Mutter im gräulich gescheckten Flachbau Bummi abgeliefert zu werden. Pünktlich um halb zwölf holte ihre Mutter sie wieder ab, denn sie war Mittagskind.
 
Christines größter Traum war es, einmal im Kindergarten Mittag zu essen. Gemeinsam mit allen Kindern an den kleinen Tischchen sitzen, die kleinen Händchen flach neben die Tellerchen gepresst, auf eine Kelle Spinat mit Rührei wartend, die kleinen Gläschen mit süßem Pfefferminztee gefüllt, erschien ihr märchenhaft. Danach auf den klapprigen Klappliegen Mittagschlaf halten, zusammen mit ihren Freunden, im kollektiven Einvernehmen sozusagen, war gewiss etwas Wunderbares. Ein zusammenschweißendes Erlebnis allemal. Und endlich würde sie mal nicht die flüchtigen und mitunter ein wenig neidvollen Seitenblicke der anderen Kinder auf sich ziehen, die ebenso gern Mittagskinder gewesen wären, es aber nie waren. Und die schrill und kurz angebunden brüllten: „Tine, abgeholt.“, sobald Tines Mutter den Kopf zur Tür hineinsteckte, sich dann abrupt abwandten und unbeeindruckt weiter spielten. So als wäre Tini nie beim Puppenspiel dabei gewesen. Das war doch bisweilen sehr verletzend, und sie bat ihre Mutter inständig, sie doch einmal, nur einmal, ein wenig später, vielleicht nach dem Mittagschlafen, abzuholen. „Geht nicht. Du hast nur einen Halbtagsplatz“, erklärte die Mutter dem betrübten Kind.
 
Folglich nutzte Christine ihren halben Tag im Kindergarten umso tatkräftiger. Eifrig machte sie mit bei den Beschäftigungen, die Frau Klusmeier, ihre freundliche Erzieherin, gewissenhaft mit ihren Zwergen durchführte. Christine malte weiße Friedenstauben, die wie lustige Wattebällchen aussahen, schnitt behutsam Blumen aus rotem Buntpapier aus, sang „Kleine weiße Friedenstaube“ und schlug die Klanghölzer dazu exakt im Takt. „Die Vögel und Blumen schenken wir den freundlichen Soldaten der Nationalen Volksarmee“, erklärte Frau Klusmeier, „Sie stehen für uns auf Wacht und schützen den Frieden.“ Das hörte sich bedeutungsvoll an. Und sie trennte sich ohne Widerspruch und nur mit ein bisschen Wehmut von ihren Wattebällchen-Tauben. Christine murrte nie, klagte nie. Ein Vorzeigekind.
 
Eines Morgens saßen alle Kinder im Kreis und Frau Klusmeier fragte mit engelsgleicher Stimme: „Wer weiß denn, wer unser Staatsratsvorsitzender ist?“ Christine meldete sich stürmisch. Sie wusste die Antwort. Na klar. Das weiß doch jeder. Ist ja babyleicht. Den Namen hatte sie schon oft zu Hause gehört, im Fernsehen, und manchmal am Küchentisch. Sie war sich ganz sicher, und stolz platzte sie heraus: „Bundeskanzler Helmut Schmidt.“
 
Frau Klusmeier runzelte leicht die Stirn. Äußerlich blieb sie ruhig. Sie atmete hörbar langsam. Leise und bestimmt sagte sie: „Nein, Christine, das ist falsch. Unser Staatsratsvorsitzender ist Erich Honecker.“ Christine war erschüttert. Verwirrt und ein wenig bekümmert sah sie Frau Klusmeier an. Ihr Blick schien zu sagen: „Sind Sie sich auch ganz sicher, Frau Klusmeier? Ich weiß das aber anders. Sie können ja meine Eltern fragen.“
 
Frau Klusmeier schien unbeeindruckt. „Hier habe ich ein Bild von Erich Honecker für Euch mitgebracht“, flötete sie. „Erich Honecker tut viel Gutes für unser Land. Auch für Euch Kinder. Ihm verdanken wir den Frieden. Und dass es allen Kindern in unserem schönen Land so gut geht und kein Kind Hunger leidet.“ Christine war mucksmäuschenstill. Das mit dem Hunger stimmte wohl, Frau Klusmeier schien sehr überzeugt. Aber das mit dem Staatsratsvorsitzenden? Sie nahm sich vor, zu Hause nachzufragen, was es mit diesem Erich Honecker auf sich hatte. Wieso hatten ihre Eltern ihr nichts von ihm erzählt? Er schien ein Held zu sein. So einer wie Sigmund Jähn, von dem ihre Erzieherin ihnen letzte Woche berichtet hatte. Der war Kosmonaut und für den Frieden in den Weltraum geflogen, hatte Frau Klusmeier gesagt.
 
Am kommenden Tag standen zwei gewichtige Herren in dunklen Mänteln vor Christines Haustür und wünschten ein Gespräch mit ihren Eltern. Sie erkundigten sich mit verkniffenen Lippen, welche Sender denn zu Hause geschaut würden. „Das Fernsehen der DDR,“ erklärten die Eltern ungerührt. Woher denn ihre Tochter den Namen Helmut Schmidt kenne? Und wie sie diesen Menschen für den Staatsratsvorsitzenden halten könne?
 
Oh, tat sie das? Das war uns nicht bekannt. Den Namen habe sie sicher irgendwo, wahrscheinlich im Kindergarten, aufgeschnappt, erklärten die Eltern. Kleine Kinder tun so etwas. Sie hören irgendetwas und plappern es dann nach. Sehr unbedacht, gewiss. Beinahe kriminell. Aber sie wüssten doch, wie das sei mit kleinen Kindern, nicht wahr? Die Herren schauten skeptisch und tuschelten leise. Laut sagten sie, man solle doch häufiger die „Aktuelle Kamera“ mit dem Kind schauen. In den Nachrichten könne man dem Kind unseren Staatsratsvorsitzenden zeigen, und darauf hinweisen, welche wichtigen sozial-politischen Errungenschaften er durchgesetzt hatte. Christines Eltern nickten zustimmend. Natürlich, das sei eine gute Idee. 19.30 Uhr sei ja auch noch nicht zu spät für das Kleinkind. Danach könne es ja gleich einschlafen und morgens um sechs sei es dann wieder munter für den Kindergarten. Sagten die Eltern aber nicht laut. Die Herren hüstelten und verschwanden.
 
Als sie gegangen waren, riefen die Eltern Christine zum vertraulichen Gespräch. Bedeutungsvoll erklärten sie ihr, dass es zwei deutsche Länder gebe. Das eine, in dem sie wohne, heiße DDR und werde von Erich Honecker regiert. Das andere, wo Tante Helga, Onkel Dieter, Tante Gisela und Onkel Karl lebten, heiße Deutschland, und werde von Helmut Schmidt regiert. Das dürfe sie aber nicht im Kindergarten erzählen. Einige Kinder wüssten das nicht und wären sicher traurig, wenn Christine etwas erzähle, worüber die anderen nicht Bescheid wüssten. Im Kindergarten solle sie lieber nur von Erich Honecker sprechen, den würden alle Kinder kennen. Oder zumindest bald kennen lernen. Christine war ein intelligentes Kind und begriff schnell.
 
So wie viele Kinder damals schnell begreifen mussten, was sie wem, wo, wann und warum erzählen durften und was nicht, um sich und ihre Familie politisch zu schützen. Die falschen Worte am falschen Ort zu der falschen Person konnten ungeahnte Konsequenzen haben und im schlimmsten Fall Verwandte und sogar Eltern und Geschwister hinter Gitter bringen. Kinder wuchsen schon im Kindergarten als kleine Diplomaten auf.
 
„Ein Diplomat ist ein Mann, der offen ausspricht, was er nicht denkt“, formulierte der italienische Journalist, Schriftsteller und Ideologiekritiker Giovannino Guareschi. Dessen literarische Protagonisten Don Camillo und Peppone, liebeswerte Antipoden im Clinch zwischen Kirche und Kommunismus, schlitzohrig und schlagfertig gleichermaßen, waren indessen alles anderes als diplomatisch. Diplomatisches Verhalten bescheinigt, laut Wikipedia, den Agierenden „Kompromissbereitschaft und den Willen, die Absichten und Wünsche jedes Beteiligten zu berücksichtigen.“ Also, wenn das nicht genau dem Verhalten der „Diplomaten“-Kinder entsprach. Ihre Antworten kamen voll und ganz den Wünschen aller Beteiligten entgegen, also den Lehrern und Erziehern. Kompromissbereit erklärte Christine sich mit Erich Honecker als Staatsratsvorsitzendem (ein schweres Wort für eine Vierjährige) einverstanden. Treu und auf Linie formulierten wir auch später unsere Aufsätze in Staatsbürgerkunde und Deutsch, die Anregungen unserer Lehrer aufgreifend und phantasievoll ausschmückend.
 
Sicher hätte Frau Klusmeier auch anders reagieren können als gleich der Familie die Stasi auf den Hals zu hetzen. Ein stilles Schmunzeln, ein wissendes Lächeln über „Kindermund tut Wahrheit kund“ wäre vielleicht angebrachter gewesen. Doch wer weiß, wie es ihr ergangen wäre, hätte sie so nachgiebig, ja sogar nachlässig reagiert. Wie lange noch wäre ihr als Pädagogin im Kindergarten Bummi die Erziehung der Kleinsten anvertraut worden? Die Augen und Ohren „unseres“ Staatsratsvorsitzenden waren überall. Und die seiner Ehefrau Margot, seit 1963 (bis 1989, lange sechsundzwanzig Jahre) Volksbildungsministerin. Ihr lag die politische Bildung der Kleinsten besonders am Herzen, ihr politischer Druck war kompromisslos und mächtig. In ihrem sozialistisch-dogmatischen Bildungssystem wollten und mussten wir bestehen. Chancengleichheit hin oder her. Reine Idealisierung. Es gab keine individuelle, leistungsabhängige, ideologiefreie Förderung, keinen Schulerfolg entsprechend persönlicher Begabungen. Nicht an der Polytechnischen Oberschule. Was es gab war Langeweile für leistungsstarke und Überforderung für leistungsschwache Schüler im Gleichmacher-Schulsystem. Wenn ich in diesem System bestehen und die Oberschule besuchen und studieren wolle, erklärten mir meine Eltern frühzeitig, dann müsse ich in der Schule sagen, was die Lehrer hören wollten, und nicht, was ich selber dachte oder gar die politischen Überzeugungen unserer Familie widerspiegelte.
 
Ähnlich wie Christine lernte auch ich früh zu unterscheiden, was ich wem erzählen durfte und was ich besser für mich behielt. In der ersten Klasse rieten meine Eltern mir, nicht jedem zu erzählen, dass ich die Christenlehre besuche, denn das würde meine Aussichten auf einen Platz an der Erweiterten Oberschule und das Abitur stark beeinträchtigen. Ich sollte möglichst nicht über Sendungen im Westfernsehen sprechen, die ich zu Hause schaute. Selbst wenn der Samstagabendfilm auf ARD Thema in der Hofpause wäre, sollte ich mich zurück halten. Das war manchmal schwierig, in einigen Fällen allerdings für das Erhalten von Freundschaften durchaus vorteilhaft. Da hatte ich die schnulzig-schöne Weihnachtsserie Silas auf ZDF gesehen und konnte nicht mit meiner Freundin Andrea über Patrick Bachs zuckersüße Frisur quatschen, denn Andrea hatte kein Westfernsehen, da ihre Mutter Richterin war. Sie hätte nicht mitreden können, und wer weiß, wie weit sich ihre Kenntnisse über meine Westfernsehgewohnheiten herumgesprochen hätten. Westfernsehen war mir (im Gegensatz zu ihr) zwar nicht verboten, doch von Staatsseite her auch nicht gern gesehen. Das konnte einem schon den Spaß am Fernsehen wenn nicht verderben, so doch beeinträchtigen.
 
Ich sollte nicht darüber reden, dass meine Oma Pakete aus dem Westen geschickt bekam. Fragten meine Klassenkameraden nach der Herkunft meiner schicken Nikis und Jeans (die neueste Mode aus dem Westen trugen wir einige Jahre später, wenn die Kleidung dort, weil unmodisch, abgelegt wurde), sollte ich antworten, mein Vater hätte sie aus dem Ausland mitgebracht. Da er zur See fuhr, wäre das für ihn generell möglich gewesen, wäre es denn um seine Devisen besser bestellt gewesen. Natürlich konnte ich nicht sagen, meine Mutter hätte die Jeans im Modeladen Exquisit gekauft, denn Stonewash Jeans gab es auch dort nur in einer einzigen Ausführung. Solche Jeans gab es nicht im Osten. Höchstens in Ungarn. Mit Angebot und Marken kannten wir uns aus.
 
Am deutlichsten schärften meine Eltern mir ein, gewisse private Informationen und Gesprächsthemen unter allen Umständen für mich zu behalten. Welche, dafür entwickelte ich mit zunehmendem Alter ein untrügliches Gespür. Als Kind hätte ich sicher nicht verstanden, warum Kollegen von meinem Vater sich im Nord-Ostsee-Kanal vom Schiff abgesetzt hatten, und sie nun vielleicht ihre Kinder zu Hause nie wieder sehen würden.
 
Ich wurde Diplomat. Ich lernte, mit wem ich über Weihnachtsserien diskutieren konnte, und mit wem nicht. Mit wem ich über Klamotten und Westpakete sprechen konnte und mit wem nicht. Mit wem ich über Religion sprechen konnte. Und mit wem nicht. Ich lernte, wem ich Geheimnisse anvertrauen konnte. Und wem auf keinen Fall.
 
Auch wenn uns in frühester Jugend noch nicht wirklich klar war, was eine mögliche Missachtung dieser Rederegeln für uns bedeuten konnte. Das war in den Fünfziger Jahren anders. Meine Mutter wuchs in ständiger Angst auf, ihr Vater könne von Männern in schwarzen Igelit-Mänteln abgeholt werden und nicht mehr heimkommen, falls sie nur etwas Falsches sagte. Oft genug geschah es, dass Menschen einfach verschwanden. In den Siebzigern lernte ich diese Angst nicht mehr kennen. Gleichwohl war mir bald sonnenklar, dass falsche Äußerungen Konsequenzen hätten. Vor allem bei meiner Ausbildung, mahnten meine Eltern.
 
Hatte dieses „diplomatische“ Verhalten Auswirkungen auf unseren gesunden Menschenverstand? Lebten wir dabei nicht in ständigem Argwohn? Wurden wir da nicht schizophren? Nein. Man verlernte vielleicht zu sagen, was man wirklich dachte oder behielt es einfach für sich. Man baute vielleicht eine zynische Distanz zu gewissen Themen auf. Die aber kommt uns heute auch zugute – in einer Zeit, in der Distanz en vogue und Zynismus populär ist, in der wir zynische Distanz zur eigenen Geschichte und Kultur täglich erleben. Unsere „Diplomatenausbildung“ ist uns auch im Beruf von Nutzen. Wir sind vorsichtiger, kompromissbereiter, überlegter mit unseren Äußerungen, vor allem Autoritäten gegenüber, was aber nichts mit Feigheit oder Unehrlichkeit zu tun hat. Wir sind lediglich ein wenig feinfühliger für anderer Menschen Geltungsbedürfnis und Arroganz. Und erlauben ihnen ihre Absichten und Wünsche, frei nach der Devise: „Der Diplomat schafft den Spagat.“

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen