Dienstag, 30. April 2013

Erster Mai, wir sind dabei!


So riefen uns Kindern die leuchtend roten Lettern unserer Wandzeitung in der Schule entgegen. In der ersten und jeder weiteren Klasse. Am 1. Mai, dem wichtigsten und seit der Verabschiedung der Verfassung der DDR 1949 staatlich verordneten Feiertag unserer Republik, sollten wir Kinder an der Seite unserer Eltern stehen – und gehen natürlich, in den Pflichtdemonstrationen für unser Heimatland.
 
Für uns war der „Kampftag der Werktätigen“ stets ein besonderes Ereignis, auf das wir uns freuten. Nicht wegen des politischen Hintergrundes. Unsere Beweggründe waren weitaus trivialer. Wir hatten schulfrei. Kein Unterricht, keine Hausaufgaben. Kein Grund jedoch, nach Ansicht des Staates, den Tag mit Müßiggang zu vertun. Anspruchsvollen Ausgleich gewährleisteten die zum „Tag der Arbeit“ als staatliches Ritual verordneten Paraden, die wir mitlaufen mussten oder, falls uns das „bedauerlicherweise“ nicht möglich war, in den Medien verfolgen konnten.
 
Dieser Feiertag wollte gut vorbereitet sein. In der Nacht zuvor schmückten die Menschen ihre Häuser mit roten Fahnen und DDR-Flaggen. Das wurde erwartet. Vor allem von jenen, die an verkehrsreichen Knotenpunkten und entlang der Hauptmarschroute wohnten. Für die Einhaltung dieser „freiwilligen“ Obliegenheit sorgten treue Staatsdiener. Ihren Argusaugen entging keine graue Fassade und sie scheuten nicht davor zurück, an Haustüren zu klopfen und die Bewohner nachdrücklich an ihre Pflicht zu erinnern. Unsere im Jugendstil 1890 erbaute Stadtvilla ziert noch heute die eigens für die DDR-Fahne angebrachte Fahnenhalterung an der stuckverzierten Fassade, die sich kürzlich als hervorragend für das Hissen diverser Piratenwimpel und Ritterflaggen unserer Söhne erwiesen hat.
 
Meine Eltern besaßen damals weder rote noch schwarz-rot-goldene mit Hammer und Sichel verzierte Stoffe, weshalb unser Haus jedes Jahr ungeschmückt blieb. Sehr zum Leidwesen der dörflichen Parteifunktionäre. Denn sofern Sie glauben, im Dorf würde man über derartige Kleinigkeiten hinwegsehen – weit gefehlt. Unser Bürgermeister fühlte sich stets persönlich beleidigt, dass Parteifreund Klaus sein Haus nicht schmückte. Man mochte es ihm verzeihen, denn Klaus war auf See und von seiner werktätigen Frau, die sich außerdem um drei Kinder, Haus, Hund, Auto und Garten kümmern musste, konnte man derartige zusätzliche Aufmerksamkeiten vielleicht nicht erwarten. Eine freundliche Erinnerung befanden die Parteifreunde dennoch für angebracht.
 
Auch wir Kinder bereiteten uns vor. Gründlich. Unsere Vorbereitungen durchzogen alle Altersstufen, Lernbereiche und Schulfächer. Im Kindergarten übten wir Wochen vorher fröhliche Lieder, die wir drei Oktaven zu hoch im Gruppenraum trällerten: „Mit fliegenden Fahnen ziehn wir in den Mai, wir Großen und Kleinen, wer wär nicht dabei! Heut ruht alle Arbeit. Wir freun uns der Welt und tanzen und springen, wie’s grad uns gefällt.“
 
Unser fröhlich-beschwingtes Liedgut wurde in der Schule konsequent erweitert und unser Repertoire an Marschliedern erwies sich als geradezu unerschöpflich. Im Unterricht sangen wir „Pioniere, voran, lasst uns vorwärts gehn! Pioniere, stimmt an, lasst die Fahnen wehn! Unsre Straße, sie führt in das Morgenlicht hinein, wir sind stolz, Pioniere zu sein!“ Auf der Straße änderten wir den Text geringfügig in: „Wiener Würstchen, voran, lasst uns vorwärts gehn. Wiener Würstchen, voran, lasst den Senf nicht stehn. Unsre Straße, sie führt in den Suppentopf hinein. Wir sind stolz, Wiener Würstchen zu sein.“ Wozu das Marschieren mindestens ebenso gut, wenn nicht besser klappte.
 
In der Unterstufe bastelten wir Wimpel, Fahnen und Plakate, so genannte Wink-Elemente, für die Parade. Unsere Wandzeitung in der Klasse gestalteten wir mit Zeitungsausschnitten, selbst gemalten Nelken und Fähnchen. Da das Thema jedes Jahr auf dem Wandzeitungsplan stand, war die Kreativität des Wandzeitungsredakteurs, den jede Klasse zu Schuljahresbeginn für ein Jahr wählte, nicht sonderlich gefordert. Er konnte auf einen Schuhkarton voller gestalterischer Elemente zurückgreifen.
 
In den höheren Klassen wurden FDJ-Nachmittage zum Ersten Mai veranstaltet, was sich schon als schwieriger erwies. Seit Jahren hatten wir das Thema von allen Seiten beleuchtet, hatten gelernt, warum in den sozialistischen Ländern der 1. Mai als „Internationaler Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus“ begangen wird und ausführlich die Traditionen der internationalen Arbeiterbewegung besprochen. Was wir nicht gelernt hatten, war die Entstehung des Feiertages. Weder im Geschichts- noch im Staatsbürgerkundeunterricht hatten unsere Lehrer erwähnt, dass historisch der 1. Mai bei unserem Klassenfeind in den USA entstand. Okay, das weiß auch heute niemand, bis auf Leute wie mich, die zufällig amerikanische Geschichte studierten. Sei es meiner Ignoranz geschuldet oder meiner Unaufmerksamkeit im Unterricht, ich jedenfalls wuchs auf in dem Glauben, dass dieser Tag eine Erfindung des Sozialismus sei. und war schockiert, als ich das Gegenteil erfuhr.
 
Damals, im Jahre 1886, rief die nordamerikanische Arbeiterbewegung zum Generalstreik auf, um den Achtstundentag durchzusetzen. Woraufhin es in Chicago zu gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen Demonstranten und der Polizei kam. Die Gewalt eskalierte und eine Bombe explodierte. Bei dem anschließenden Aufruhr, die in die US-Geschichte als Haymarket Riot einging, wurden über zweihundert Arbeiter verletzt und getötet. Zum Gedenken an die Opfer rief man auf dem Gründungskongress der Zweiten Internationalen Arbeiterbewegung 1889 den 1. Mai als „Kampftag der Arbeiterbewegung“ aus. Diese Umstände waren uns in der DDR bis auf den Gründungskongress gänzlich unbekannt. Und selbst der wurde den Russen als Verdienst zugeschoben, obgleich doch „unser“ Friedrich Engels den Kongress angeregt und vorbereitet hatte.
 
Der 1. Mai stand auch im Kunstunterricht jedes Jahr auf dem Lehrplan. In der zweiten Klasse malte ich einen braunen LKW mit rosa Rädern auf drei Achsen, geschmückt mit bunten Wimpeln, roten Nelken und Frühlingszweigen, dazu heiter winkende und rote Fahnen schwenkende Kinder und Friedenstauben unter einer strahlend rotgelben Sonne. In der vierten Klasse zeichnete ich mit Ausziehtusche ein Selbstportrait beim Festumzug. Mit Halstuch und Pionierkäppi und mit Blumen winkend lache ich dem Betrachter zu, hinter mir eine bunte Parade fröhlicher Kinder und Erwachsener. Wimpel, rote Fahnen und Transparente schwenkend marschieren sie vorbei an quadratischen Häuserblocks mit roten Gardinen und Fahnen. Eine Szene aus dem Leben. Unsere Bilder schmückten die Treppenflure unserer Schule.
 
In Punkto Malen von Maidemonstrationen entwickelte ich eine Strategie; meine Bilder ähnelten sich jedes Jahr. In Heimatkunde Klasse Zwei illustrierten die gleichen jubelnden Menschen den Text in meinem Heft: „Der 1. Mai ist ein Kampf- und Feiertag der Werktätigen in aller Welt. In den sozialistischen Ländern freuen sich die Menschen über das, was sie geschaffen haben. Sie zeigen, dass sie dafür kämpfen wollen, dass überall auf der Welt die Menschen in Glück und Frieden leben können. Wir freuen uns auf den 1. Mai!“ Ja, das taten wir wirklich. Das brannte sich ein.
 
In der vierten Klasse stimmten wir uns mit einem Diktat auf den Feiertag ein. Am 7. April 1983 schrieb ich in mein hellgrünes Diktatheft Diktat Nr. 6: „Der Kampftag der Werktätigen. Am 1. Mai marschieren die Arbeiter, die Genossenschaftsbauern und die anderen Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik für Frieden und Sozialismus. Sie zeigen die Ergebnisse der geleisteten Arbeit. Alle können sehen, wie sich unsere Menschen unter der Leitung der Partei der Arbeiterklasse zusammengeschlossen haben. Auch wir Pioniere stehen fest an der Seite der Genossen. Der Festzug ist jedesmal ein großes Erlebnis. Fehler: 0; Note: 1“ Seinerzeit wurde „jedes Mal“ noch zusammen geschrieben.
 
Ich muss allerdings gestehen: an der Seite der Genossen stand ich am 1. Mai nie. Da an diesem Tag die Schulbusse nicht fuhren, hatten wir Dorfkinder eine gute Entschuldigung, nicht bei den Umzügen in der Stadt mitzujubeln. Folglich kam ich nie in den Genuss dieses „großen Erlebnisses“, aber das musste man ja nicht gleich an die Wandzeitung hängen. Dieser Umstand wurde besser nicht erwähnt, denn er wirkte sich nicht gut auf die Gesamtbeurteilung aus. Ich hatte dennoch nie das Gefühl, etwas verpasst zu haben. So ein Tag schulfrei mitten in der Woche kam uns Dorfkindern sehr gelegen: wir konnten ausschlafen, spielen und hatten zudem Haus und Hof für uns allein, denn unsere Eltern mussten marschieren. Dafür fuhren sie mit dem öffentlichen Bus oder Auto in die Stadt.
 
Angesichts zahlreicher Fernsehübertragungen der jährlichen Maidemonstrationen in Berlin und noch zahlreicheren Fotos in den Zeitungen konnte ich mir gleichwohl ein lebhaftes Bild der Umzüge machen, als wäre ich selbst dabei gewesen. Erich Honecker saß mit seinem Gefolge auf der Ehrentribüne, nahm huldvoll lächelnd Blumen und gebastelte Wimpel der Jungen Pioniere entgegen, schüttelte auserwählte Hände des Volkes um zu signalisieren „Ich bin einer von euch!“ und lauschte anerkennend den Reden über die Planerfüllung in Industrie und Handwerk. Nicht mehr der Kampf um soziale und politische Rechte, sondern das Streben nach wirtschaftlichem Fortschritt stand im Mittelpunkt der Kundgebungen. Die Militärparaden nach sowjetischem Vorbild, die ab 1956 zur Demonstration des Kampfpotentials abgehalten wurden, hatte man nach Ende des Kalten Krieges eingestellt. Fortan verzichtete die SED-Führung auf das militärische Ritual des Aufmarsches der „gepanzerten Faust der Arbeiterklasse“, ließ die Ehrentribüne absenken und näherte sich vorsichtig dem Volk.
 
Mein Vater, der als Seemann zu den „anderen Werktätigen“ zählte, marschierte ebenfalls selten. Er war meist auf See. Doch auch an Board wurde dieser Feiertag feierlich begangen. Morgens versammelte sich die Mannschaft zum Flaggenappell auf dem Achterdeck, und obgleich man auf hoher See stets ungeflaggt fuhr, würdigte man an diesem hohen Feiertag unter der Staatsflagge Aktivisten mit Urkunden, Medaillen und (besonders beliebt) Sofortprämien in Bar. Die Mannschaft arbeitete verkürzt und nachmittags feierte man mit Bier, Kaffee und Kuchen.
 
Meine Mutter, deren Anwesenheit als Kapitänsfrau bei den Maidemonstrationen genauestens registriert wurde, setzte sich morgens in ihren olivgrünen Lada und fuhr leidenschaftslos zur Umzugs-Pflichtveranstaltung nach Rostock. Nach endlosem Gruppieren zog der Marsch vorbei an Tribünen mit führenden Parteimitgliedern, Ehrengästen und „verdienten Persönlichkeiten“ des öffentlichen Lebens, geschmückt mit roten Mainelken aus Plastik im Knopfloch, produziert in der Kunstblumenfabrik Sebnitz. Seitdem hat meine Mutter die wohlriechenden roten Blüten konsequent aus ihrem Garten verbannt. Die Märsche endeten stets vor der Rathaustribüne auf dem Marktplatz. Dort verlasen Parteifunktionäre die leicht aktualisierte Rede des Vorjahres, denn die Planergebnisse lagen in diesem Jahr nicht nur 46, sondern 55 Prozent über dem Soll, und von dort strömten die Massen nach Hause oder mit einem (politisch und persönlich) ausgesuchten Kreis in die Kneipe.
 
Mein Freund Gruni kam gar nicht erst auf dem Rathausplatz an. Regelmäßig während des Umzugs verdrückten er und seine Kumpels sich zum Heringe angeln an die Ostsee. Vorausschauend hatte er sein Fahrrad hinter einer Busbude nahe der Marschroute platziert. Beim Beziehen der Blockaufstellung reihte er sich in seinen Klassenverband ein, um dann leise und unbemerkt „kurz mal auszutreten“ und zu verschwinden. Am besten in der Kurve, wo die Parade ins Stocken geriet. Zwanzig Minuten später stand er an der Mole, die Angel im Wasser, die Sonne auf der Brust. Vorwurfsvolle Blicke am nächsten Morgen. Seine Lehrerin hatte ihn vermisst. „Martin, Du warst schon wieder nicht beim Umzug dabei.“ „Wieso? Haben Sie mich nicht gesehen? Ich war doch die ganze Zeit da. Ich lief bei der Zehnten mit.“ Solche Extravaganzen trauten sich aber nicht viele.
 
Ich genoss derweil meinen freien Tag im grünen Garten, ein gutes Buch auf dem Schoß, und ließ mir vorsorglich für das diesjährige Schulselbstportrait schon mal eine besonders eindrucksvolle Kulisse einfallen. Jubelnde Kinder, eine Parade mit Autos und Menschen und ein geschmückter Panzer würden sich sicher gut machen, dazu rote Plakate: „Erster Mai, wir sind dabei!“