Am 1. September
1977, drei Monate nach meinem fünften Geburtstag, änderte sich mein fröhliches
Kinderleben schlagartig. Ich kam in den Kindergarten. War ich bis dahin der Kinderkrippe
und dem langen Arm der sozialistischen Erziehung entgangen (ich verbrachte bis dahin
meine Tage bei meiner Oma, während meine Mutter arbeitete), so sollte ich nun in den Genuss der Vermittlung einer
sozialistischen Moral kommen und unter Aufsicht des Ministeriums für
Volksbildung zur Schulreife geführt werden. Als erste Stufe des zentralen Bildungssystems
nahm der Kindergarten nicht nur den werktätigen Müttern tagsüber die Kinderbetreuung
ab und verhalf ihnen dazu, gleichberechtigter Teil der Gesellschaft zu sein. Als
vorschulische Erziehungseinrichtung war er auch dem strengen Regime Margot Honeckers
untergeordnet. Hier begann die Formung des guten sozialistischen Bürgers. Dafür
sorgte der Staat mit kostenlosen Kindergartenplätzen für 98 Prozent aller Drei-
bis Sechsjährigen.
Meine Mutter hatte im Kindergarten „Storchennest“ im zwei Kilometer
entfernten Nachbardorf einen Platz zugewiesen bekommen -- für mich nicht nur
räumlich unendlich weit von meinem Zuhause entfernt. Das alte Siedlerhaus mit
Wiese und Spielplatz war ab jetzt zehn Stunden täglich mein Domizil. Drinnen zwei
Gruppenräume, ein schmaler Flur mit schmalen Garderobenleisten und schmalen Bänken,
ein braungefliester Waschraum und Küche. Alles war klein und übersichtlich. Für
mich allerdings irgendwie unüberschaubar. Wie beneidete ich den Storch in seinem Nest auf
dem Dach. Er hatte den freien Überblick und konnte fliegen, wohin er wollte.
Ein typischer Kindergartentag begann für mich dunkel und kalt und mit
Bauchschmerzen. War ich das gesamte Wochenende kerngesund und mopsfidel, so
stellte sich pünktlich am Sonntagabend wie auf Bestellung ein erstes Zwicken in
der Magengegend ein. Am Montagmorgen um halb sechs war ich krank, denn eine
Woche Kindergarten lag vor mir. Doch so sehr ich mich auch weinend an meiner
Mutter festklammerte, es half nichts. „Kind, sei doch vernünftig.“ Und ich war
vernünftig. Schließlich war ich „die Große“.
Ich ließ mir die grüne Brottasche aus derbem Schweinsleder um den Hals
hängen und marschierte schluchzend und allein, meine Tränen tapfer
unterdrückend, die fünfhundert Meter bis zum Konsum. Dort wartete ich zusammen
mit anderen Kindern aus dem Dorf auf einen zum Bus umfunktionierten LKW unserer
Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, kurz LPG, der uns um sechs Uhr
abholte. Meine Mutter beteuert zwar, sie habe mich manchmal mit dem Auto
gefahren, aber diese Glücksmomente sind meinem Gedächtnis entschwunden.
Manchmal fuhr mich auch meine Oma auf dem Fahrrad zum Konsum und der Tag begann
nicht ganz so dunkel, aber immer noch grau.
Der Tagesablauf war stets der gleiche, schriftlich von den Erzieherinnen
geplant und bis ins Detail geregelt, um gut vorbereitet zu sein und ihre Pädagogik
unter einheitlichen Gesichtspunkten zu durchdenken. Nichts blieb dem Zufall
überlassen. Hatten sie doch den Nachwuchs gemäß Lehrplan so zu lenken, dass
Wissen, Können und Verhalten, das wir Kinder uns aneigneten, den angestrebten
gesellschaftlichen, zentral festgelegten Zielen entsprach. Kinder, gemäß den
damaligen aktuellsten psychologischen und pädagogischen Erkenntnissen als
unfertig und defizitär angesehen, waren eher pädagogisches Objekt als Subjekt
ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Erst durch Arbeit und Spiel, gewöhnlich unter
Anleitung, reiften sie.
Morgens vor dem Frühstück hatten wir Zeit zum freien Spielen. In
geregeltem Rahmen, versteht sich, und in begrenztem Umfang. Ich saß an einem
kleinen Tischchen im Gruppenraum und malte konzentriert und versunken Ostereier
und Blumenwiesen. Ich hatte keine Lust, mit den anderen Kindern zu bauen oder Puppenfamilie
zu spielen. Zum Frühstück aßen wir unsere mitgebrachten Wurstbrote und tranken süßen
Pfefferminztee. Danach war Schluss mit Individualismus und wir gingen zur
Gruppenarbeit über.
In der Gruppe malten wir gleichfalls Blumenwiesen, aber mit
Instruktionen und thematischen Schwerpunkten. Wir malten Frühlingsbilder,
Kinder bei der Hausarbeit mit Wischeimer und Schrubber, Werktätige in den
Betrieben oder Soldaten und Panzer. Wobei die Erzieherin genau darauf achtete,
wie und in welcher Hand wir den Stift hielten und dass wir nicht über Konturen
hinaus malten. Wir bastelten Friedenstauben und Windräder, kneteten Tiere und
Traktoren, verglichen Mengen von bunten Stäbchen und stapelten Gefäße nach ihrer
Größe.
Wir sangen auch viel, konform zum Lehrplan. Denn Singen stand
„im Dienste der sozialistischen Erziehung“, wie im Liederbuch für die Vorschule
Sputnik, Sputnik, kreise angemerkt.
Folglich stehe, so das Vorwort, „das Gegenwartslied“ im „Vordergrund der Singearbeit“
und „überliefertes Liedgut“ sei „sorgfältig auszuwählen und anzuwenden“. Kapitel
Eins des beliebten Liederbuches „Wisst ihr, was ich werden will“ widmete sich
Liedern „vom sozialistischen Aufbau in Stadt und Land, von den Helfern bei der
Arbeit, von Kran und Bagger, von Traktor und Kombine, von den Berufen der
Eltern, von den Soldaten unserer Volksarmee, von Auto, Feuerwehr, Eisenbahn und
Sputnik; Lieder vom Handwerk, von Bäcker, Schneider, Schuster, von Maurer,
Tischler, Schlosser, Schmied und Schornsteinfeger.“
Wir sangen fröhlich „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht“, „Der
Volkspolizist“ oder „Mein Bruder ist Soldat im großen Panzerwagen, und stolz
darf ich es sagen: Mein Bruder schützt den Staat, meiner Bruder schützt den
Staat.“ Um schließlich auch, laut Lehrplan, „freundschaftliche Gefühle zu den
Soldaten der NVA“ herauszubilden. Dazu schlugen wir Triangel, Trommel und
Klanghölzer. Wäre mein Vater Panzerführer gewesen, hätte ich sicher mit noch
mehr Inbrunst mitgeträllert. Doch es gab kein zeitgenössisches Liedgut über Ingenieure,
Juristen, Ärzte oder Kapitäne.
Auf unsere Gesundheit wurde besonders geachtet. Ein fester
Tagesablauf, Bewegung, frische Luft, gesunde Ernährung und Körperpflege sollten
unserem Nervensystem und Organismus nachweislich gut tun. So putzten wir nach
dem Mittagessen gemeinschaftlich unsere Zähne, schulten durch Turnübungen gezielt
unsere motorischen Fähigkeiten und machten Fußgymnastik mit einem Stofftaschentuch,
das wir zwischen unsere Zehen klemmten. Meine Mutter als Orthopädin fand diese
Übung ausgezeichnet. Auf Spielplatz und Wiese spielten wir Fangen, pflückten
Löwenzahn, um aus den Blüten dunkelbraunen, bitter-süßen Honig zu kochen, und
futterten Taubnesselblüten und Sauerampfer. Das behauptete jedenfalls Tommi,
der frechste Junge meiner Gruppe, der sich als Spezialist für Kräuterkunde ausgab.
Ich weiß bis heute nicht, wie Sauerampfer aussieht und was wir tatsächlich aßen.
Nach dem Mittagessen machten wir Mittagschlaf auf Klappliegen. Manchmal
las uns eine engagierte Kindergärtnerin eine Geschichte vor. Eine weniger engagierte
Aufpasserin befahl uns zu schlafen und wachte wie ein Luchs über unsere Bewegungen.
Schon nach zwei Minuten konnte ich nicht mehr in der gewählten Schlafposition liegen
und versuchte, meinen Arm zu verdrehen oder – das grenzte an Tollkühnheit –
mich umzudrehen. Sofort ermahnte sie mich: „Kind, lieg still!“ Besonders
qualvoll war es, wenn mein Bein juckte und ich es unbedingt kratzen musste. An
Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Meine Gedanken kreisten darum, wie ich dem
Juckreiz, der an Intensität zunahm, Einhalt gebieten konnte, ohne dass die
Aufpasserin es sah. Nach minutenlangem Ausharren wagte ich mutig ein Kratzmanöver.
Und erntete prompt einen Aufschrei der Empörung: „Kind, lieg endlich still und
schlaf! Und versuche nicht noch einmal, auch nur deinen kleinen Finger zu bewegen.
Ich sehe alles!“
Dieses paramilitärische Verhalten konnte nicht den staatlich
ausgebildeten Aufpasserinnen angelastet werden, die sich stets um das Wohlergehen und die Erziehung von uns Kindern bemühten.
Es war einzig und allein den Umständen, genauer gesagt, der Beschaffenheit der
Klappliegen geschuldet. Die Liegeflächen unserer Betten waren nämlich aus
Pappe, die bei der kleinsten Erschütterung ausbrach, und der Hausmeister kam
mit den Reparaturen nicht mehr hinterher.
Manchmal hatten wir Glück und unsere Erzieherin zog sich zur wohlverdienten
Kaffeepause mit ihren Kolleginnen zurück und ließ uns Fünfjährige
unbeaufsichtigt. Tommi erzählte dann eine seiner Geschichten von betrunkenen
Hühnern, tollwütigen Hunden oder dreisten Kinderfängern im Dorf. Ich hatte
furchtbare Angst und meine Mutter Mühe, mir zu erklären, dass Tommi eine rege
Fantasie habe und es bestimmt keinen Kinderfänger gäbe. Womit sie sicher Recht
hatte. Wir spielten auch Fusselverkauf, indem wir Fussel von unseren Decken abzupften
und an andere Kinder weiter gaben. Während einige Jungen wagemutig von Fusselstand
zu Fusselstand sprangen, um schnell unter ihre Decken zu schlüpfen, wenn die
Erzieherin nahte (und damit den Zusammenbruch ihrer Liegen riskierten), bewegte
ich mich nicht von meiner Liege weg. Das war ja schließlich nicht erlaubt!
Überhaupt hielt ich mich an Verbote und Vorschriften. Nicht weil ich
unbedingt Angst vor den Folgen des Vergehens hatte, sondern weil ich so erzogen
war. Ich redete nicht dazwischen, wenn Erwachsene sich unterhielten, ich wusch
mir vor dem Essen die Hände, aß mein Mittag auf und befolgte auch sonst geflissentlich
die Anweisungen der Erzieherinnen. Eine mitfühlende Erzieherin schenkte mir für
so viel Vorbildleistung eine Storchenfeder, die vom Nest gefallen war. Wohl
auch, um mich zu ermutigen, ein wenig meine Schüchternheit abzulegen. Tommi
schien es nichts auszumachen, wenn er wieder mal in der Ecke stehen oder seine Strafzeit
auf dem Flur absitzen musste, nachdem er sich mit Frank geprügelt hatte. Solche
Strafen waren normal. Konflikte zwischen den Kindern hatten die Erzieherinnen
sofort im Ansatz zu unterbinden. Konfliktbewältigung stand anscheinend nicht
auf dem Lehrplan.
Zur umfangreichen Erziehung von Vorschulkindern gehörte es auch, uns mit
der Arbeit der Werktätigen in den Betrieben vertraut zu machen. Um den Wert der
Arbeit für die Gemeinschaft kennen und achten zu lernen, eine Vorstellung vom
gesellschaftlichen Leben zu bekommen und das „sozialistische Heimatland“ lieben
zu lernen. Während Stadtkinder eine große Auswahl volkseigener Betriebe vor der
Haustür hatten, besuchten wir die LPG im Dorf. Die Genossenschaftsbauern
zeigten uns Mähdrescher und Traktoren, und die Jungen waren schwer beeindruckt
und wussten, dass sie auch einmal Mähdrescherfahrer werden wollten.
Die Vorschulgruppe durfte im Frühling sogar die „Gelbe Hummel“
besichtigen. Das war das gelbe Düngemittelflugzeug unserer LPG, das chemische
Giftstoffe zur Kartoffelkäferbekämpfung auf die Felder streute. Wir Kinder kannten
sie gut und riefen laut „Die Gelbe Hummel“, wenn sie über unsere Häuser und Gärten
flog. Jedes Flugzeug, egal wie groß, war eine Sensation. Hand in Hand und in
Zweierreihe spazierten wir zur Landebahn der Hummel am Dorfrand, einem holprigen
Plattenweg aus Beton, mitten im Getreidefeld versteckt. Hier übte ich später Moped
und Auto fahren. Genosse Michalek, Bauer und Pilot, begrüßte uns und zeigte uns
das Herz der Hummel, erklärte uns geduldig alle Schalter und Hebel und erlaubte
uns, kurz auf dem Pilotensitz Platz zu nehmen. Sogar Tommi war für den
Bruchteil einer Sekunde mucksmäuschenstill und fasziniert. Pilot stand ganz weit
oben auf der Berufswunschliste vieler Jungen und würde dort auch bleiben.
Unser Kindergartenjahr war gespickt mit Höhepunkten. Zu
Weihnachten kam der Weihnachtsmann mit Larve und Bart. Wir sagten Gedichte auf und
erhielten Schokoladenweihnachtsmänner und neues Spielzeug für unsere Gruppe. Zum
Fasching verkleideten wir uns als Rotkäppchen, Cowboy, Indianer, Ungarin und
Clown und schmückten unsere Gruppenräume mit selbst gebastelten Girlanden und
Luftballons, die es auf Zuteilung für Kindergärten gab, und zu nationalen
Kampf- und Feiertagen sangen wir die einstudierten Lieder aus dem ff.
Jeden Abend um siebzehn Uhr brachte mich der LKW-Bus wieder in mein Dorf zurück.
Mein Weg vom Konsum nach Hause war im Winter besonders lang und dunkel. Die
funze
lige Straßenbeleuchtung fiel häufig aus. Einmal schneite es stürmisch. Ich
saß am Busfenster, schaute auf die schneebedeckten Felder, hörte den Wind
fauchen und überlegte angestrengt, wie ich bei dem Wetter nach Hause kommen
sollte? In Gedanken versunken merkte ich nicht, als der Bus auf der Landstraße
hielt und jemand nach mir fragte. Es dauerte eine Weile, bis ich reagierte. Und
schließlich strahlte ich, als mein Opa vor mir stand, gekommen, um mich bei dem
Schneegestöber abzuholen. Ein Lichtblick in dunkler Zeit.
Zwei Jahre ertrug ich den Kindergarten. Auf Anraten einer
kompetenten Erzieherin – „Da hat sie ein Jahr weniger zur Rente“ – entschieden
sich meine Eltern gegen eine vorzeitige Einschulung. Der Stichtag zur
Einschulung war der 31. Mai. Meine Mutter tröstete mich: „Nicht mehr lange und
du kommst in die Schule.“ Ich harrte aus. In gespielter, glücklicher
Kindergemeinschaft. Und entwickelte schon damals gewisse Ressentiments gegen gelenkte
Freizeitbeschäftigung. Wohl, weil ich zu lange zu individualistisch
aufgewachsen war. Bei Oma hatte ich ausschlafen, spielen, malen und kneten
dürfen, was meiner Fantasie entsprang, und zu Mittag die leckersten Gerichte
aus Omas Küche gegessen. Nun stand ich morgens um halb sechs auf, knetete nach
Vorschrift und musste grundsätzlich alles aufessen, was auf den Teller kam.
Zwar konnten wir durchaus unsere individuellen Fähigkeiten und Neigungen,
Vorstellungen und Bedürfnisse entwickeln – soweit sie der Gemeinschaft nützten.
Wir sollten uns im Kollektiv wohl fühlen und das Bedürfnis entwickeln,
freundschaftlich allen dienlich zu sein. Unsere Selbstverwirklichung und
individuellen Bedürfnisse sollten wir dem großen Ganzen unterordnen, nach der
Doktrin: Was für die Gruppe gut war, war auch für den Einzelnen gut. Ich fühlte
mich eher verraten und verkauft, frei nach dem alten Spruch meines Opas,
„Kindergarten, Schweinebraten, hat die ganze Welt verraten.“
Ob alle den Kindergarten so schlimm empfanden? Das würde mich als Elterngeneration interessieren. Es hing sicherlich von den Persönlichkeiten der Kindergärtnerinnen und den anderen Kindern ab, nicht zuletzt auch von der Einrichtung selbst.
AntwortenLöschenVielen Dank für einen sehr genau beschreibenden Beitrag . Ich kann fast Alles so bestätigen . Es war sehr unterhaltsam zu lesen . Trotzdem sehne ich mich oft genau nach diesen festen Regeln im Kiga , wobei mir selbst immer unwohl war wenn man den Anforderungen und Richtlinien in der Einrichtung nicht gerecht wurde . Gern würde ich noch Geschichten aus ihrer Schulzeit lesen , trefflich beschrieben .!?
AntwortenLöschenHallo , bin durch das Bild des Buches auf den Beitrag aufmerksam geworden. Das war so A5 groß und glänzend . Die Geschichte ist Super . Bin auch Jahrgang 72 . Und erst mit 4 in den Kindergarten . Allerdings vermisse ich bis Heute die damalige Sicherheit und Fürsorge . Außer das abessen von Allem , das war schlimm .
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