Sonntag, 9. Juni 2013

Kindergarten, Schweinebraten: Kindergartenalltag in der DDR


Am 1. September 1977, drei Monate nach meinem fünften Geburtstag, änderte sich mein fröhliches Kinderleben schlagartig. Ich kam in den Kindergarten. War ich bis dahin der Kinderkrippe und dem langen Arm der sozialistischen Erziehung entgangen (ich verbrachte bis dahin meine Tage bei meiner Oma, während meine Mutter arbeitete), so sollte ich nun in den Genuss der Vermittlung einer sozialistischen Moral kommen und unter Aufsicht des Ministeriums für Volksbildung zur Schulreife geführt werden. Als erste Stufe des zentralen Bildungssystems nahm der Kindergarten nicht nur den werktätigen Müttern tagsüber die Kinderbetreuung ab und verhalf ihnen dazu, gleichberechtigter Teil der Gesellschaft zu sein. Als vorschulische Erziehungseinrichtung war er auch dem strengen Regime Margot Honeckers untergeordnet. Hier begann die Formung des guten sozialistischen Bürgers. Dafür sorgte der Staat mit kostenlosen Kindergartenplätzen für 98 Prozent aller Drei- bis Sechsjährigen.
 
Meine Mutter hatte im Kindergarten „Storchennest“ im zwei Kilometer entfernten Nachbardorf einen Platz zugewiesen bekommen -- für mich nicht nur räumlich unendlich weit von meinem Zuhause entfernt. Das alte Siedlerhaus mit Wiese und Spielplatz war ab jetzt zehn Stunden täglich mein Domizil. Drinnen zwei Gruppenräume, ein schmaler Flur mit schmalen Garderobenleisten und schmalen Bänken, ein braungefliester Waschraum und Küche. Alles war klein und übersichtlich. Für mich allerdings irgendwie unüberschaubar. Wie beneidete ich den Storch in seinem Nest auf dem Dach. Er hatte den freien Überblick und konnte fliegen, wohin er wollte.
 
Ein typischer Kindergartentag begann für mich dunkel und kalt und mit Bauchschmerzen. War ich das gesamte Wochenende kerngesund und mopsfidel, so stellte sich pünktlich am Sonntagabend wie auf Bestellung ein erstes Zwicken in der Magengegend ein. Am Montagmorgen um halb sechs war ich krank, denn eine Woche Kindergarten lag vor mir. Doch so sehr ich mich auch weinend an meiner Mutter festklammerte, es half nichts. „Kind, sei doch vernünftig.“ Und ich war vernünftig. Schließlich war ich „die Große“.
 
Ich ließ mir die grüne Brottasche aus derbem Schweinsleder um den Hals hängen und marschierte schluchzend und allein, meine Tränen tapfer unterdrückend, die fünfhundert Meter bis zum Konsum. Dort wartete ich zusammen mit anderen Kindern aus dem Dorf auf einen zum Bus umfunktionierten LKW unserer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, kurz LPG, der uns um sechs Uhr abholte. Meine Mutter beteuert zwar, sie habe mich manchmal mit dem Auto gefahren, aber diese Glücksmomente sind meinem Gedächtnis entschwunden. Manchmal fuhr mich auch meine Oma auf dem Fahrrad zum Konsum und der Tag begann nicht ganz so dunkel, aber immer noch grau.
 
Der Tagesablauf war stets der gleiche, schriftlich von den Erzieherinnen geplant und bis ins Detail geregelt, um gut vorbereitet zu sein und ihre Pädagogik unter einheitlichen Gesichtspunkten zu durchdenken. Nichts blieb dem Zufall überlassen. Hatten sie doch den Nachwuchs gemäß Lehrplan so zu lenken, dass Wissen, Können und Verhalten, das wir Kinder uns aneigneten, den angestrebten gesellschaftlichen, zentral festgelegten Zielen entsprach. Kinder, gemäß den damaligen aktuellsten psychologischen und pädagogischen Erkenntnissen als unfertig und defizitär angesehen, waren eher pädagogisches Objekt als Subjekt ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Erst durch Arbeit und Spiel, gewöhnlich unter Anleitung, reiften sie.
 
Morgens vor dem Frühstück hatten wir Zeit zum freien Spielen. In geregeltem Rahmen, versteht sich, und in begrenztem Umfang. Ich saß an einem kleinen Tischchen im Gruppenraum und malte konzentriert und versunken Ostereier und Blumenwiesen. Ich hatte keine Lust, mit den anderen Kindern zu bauen oder Puppenfamilie zu spielen. Zum Frühstück aßen wir unsere mitgebrachten Wurstbrote und tranken süßen Pfefferminztee. Danach war Schluss mit Individualismus und wir gingen zur Gruppenarbeit über.
 
In der Gruppe malten wir gleichfalls Blumenwiesen, aber mit Instruktionen und thematischen Schwerpunkten. Wir malten Frühlingsbilder, Kinder bei der Hausarbeit mit Wischeimer und Schrubber, Werktätige in den Betrieben oder Soldaten und Panzer. Wobei die Erzieherin genau darauf achtete, wie und in welcher Hand wir den Stift hielten und dass wir nicht über Konturen hinaus malten. Wir bastelten Friedenstauben und Windräder, kneteten Tiere und Traktoren, verglichen Mengen von bunten Stäbchen und stapelten Gefäße nach ihrer Größe.
 
Wir sangen auch viel, konform zum Lehrplan. Denn Singen stand „im Dienste der sozialistischen Erziehung“, wie im Liederbuch für die Vorschule Sputnik, Sputnik, kreise angemerkt. Folglich stehe, so das Vorwort, „das Gegenwartslied“ im „Vordergrund der Singearbeit“ und „überliefertes Liedgut“ sei „sorgfältig auszuwählen und anzuwenden“. Kapitel Eins des beliebten Liederbuches „Wisst ihr, was ich werden will“ widmete sich Liedern „vom sozialistischen Aufbau in Stadt und Land, von den Helfern bei der Arbeit, von Kran und Bagger, von Traktor und Kombine, von den Berufen der Eltern, von den Soldaten unserer Volksarmee, von Auto, Feuerwehr, Eisenbahn und Sputnik; Lieder vom Handwerk, von Bäcker, Schneider, Schuster, von Maurer, Tischler, Schlosser, Schmied und Schornsteinfeger.“
 
Wir sangen fröhlich „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht“, „Der Volkspolizist“ oder „Mein Bruder ist Soldat im großen Panzerwagen, und stolz darf ich es sagen: Mein Bruder schützt den Staat, meiner Bruder schützt den Staat.“ Um schließlich auch, laut Lehrplan, „freundschaftliche Gefühle zu den Soldaten der NVA“ herauszubilden. Dazu schlugen wir Triangel, Trommel und Klanghölzer. Wäre mein Vater Panzerführer gewesen, hätte ich sicher mit noch mehr Inbrunst mitgeträllert. Doch es gab kein zeitgenössisches Liedgut über Ingenieure, Juristen, Ärzte oder Kapitäne.
 
Auf unsere Gesundheit wurde besonders geachtet. Ein fester Tagesablauf, Bewegung, frische Luft, gesunde Ernährung und Körperpflege sollten unserem Nervensystem und Organismus nachweislich gut tun. So putzten wir nach dem Mittagessen gemeinschaftlich unsere Zähne, schulten durch Turnübungen gezielt unsere motorischen Fähigkeiten und machten Fußgymnastik mit einem Stofftaschentuch, das wir zwischen unsere Zehen klemmten. Meine Mutter als Orthopädin fand diese Übung ausgezeichnet. Auf Spielplatz und Wiese spielten wir Fangen, pflückten Löwenzahn, um aus den Blüten dunkelbraunen, bitter-süßen Honig zu kochen, und futterten Taubnesselblüten und Sauerampfer. Das behauptete jedenfalls Tommi, der frechste Junge meiner Gruppe, der sich als Spezialist für Kräuterkunde ausgab. Ich weiß bis heute nicht, wie Sauerampfer aussieht und was wir tatsächlich aßen.
 
Nach dem Mittagessen machten wir Mittagschlaf auf Klappliegen. Manchmal las uns eine engagierte Kindergärtnerin eine Geschichte vor. Eine weniger engagierte Aufpasserin befahl uns zu schlafen und wachte wie ein Luchs über unsere Bewegungen. Schon nach zwei Minuten konnte ich nicht mehr in der gewählten Schlafposition liegen und versuchte, meinen Arm zu verdrehen oder – das grenzte an Tollkühnheit – mich umzudrehen. Sofort ermahnte sie mich: „Kind, lieg still!“ Besonders qualvoll war es, wenn mein Bein juckte und ich es unbedingt kratzen musste. An Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Meine Gedanken kreisten darum, wie ich dem Juckreiz, der an Intensität zunahm, Einhalt gebieten konnte, ohne dass die Aufpasserin es sah. Nach minutenlangem Ausharren wagte ich mutig ein Kratzmanöver. Und erntete prompt einen Aufschrei der Empörung: „Kind, lieg endlich still und schlaf! Und versuche nicht noch einmal, auch nur deinen kleinen Finger zu bewegen. Ich sehe alles!“
 
Dieses paramilitärische Verhalten konnte nicht den staatlich ausgebildeten Aufpasserinnen angelastet werden, die sich stets um das Wohlergehen und die Erziehung von uns Kindern bemühten. Es war einzig und allein den Umständen, genauer gesagt, der Beschaffenheit der Klappliegen geschuldet. Die Liegeflächen unserer Betten waren nämlich aus Pappe, die bei der kleinsten Erschütterung ausbrach, und der Hausmeister kam mit den Reparaturen nicht mehr hinterher.  
 
Manchmal hatten wir Glück und unsere Erzieherin zog sich zur wohlverdienten Kaffeepause mit ihren Kolleginnen zurück und ließ uns Fünfjährige unbeaufsichtigt. Tommi erzählte dann eine seiner Geschichten von betrunkenen Hühnern, tollwütigen Hunden oder dreisten Kinderfängern im Dorf. Ich hatte furchtbare Angst und meine Mutter Mühe, mir zu erklären, dass Tommi eine rege Fantasie habe und es bestimmt keinen Kinderfänger gäbe. Womit sie sicher Recht hatte. Wir spielten auch Fusselverkauf, indem wir Fussel von unseren Decken abzupften und an andere Kinder weiter gaben. Während einige Jungen wagemutig von Fusselstand zu Fusselstand sprangen, um schnell unter ihre Decken zu schlüpfen, wenn die Erzieherin nahte (und damit den Zusammenbruch ihrer Liegen riskierten), bewegte ich mich nicht von meiner Liege weg. Das war ja schließlich nicht erlaubt!
 
Überhaupt hielt ich mich an Verbote und Vorschriften. Nicht weil ich unbedingt Angst vor den Folgen des Vergehens hatte, sondern weil ich so erzogen war. Ich redete nicht dazwischen, wenn Erwachsene sich unterhielten, ich wusch mir vor dem Essen die Hände, aß mein Mittag auf und befolgte auch sonst geflissentlich die Anweisungen der Erzieherinnen. Eine mitfühlende Erzieherin schenkte mir für so viel Vorbildleistung eine Storchenfeder, die vom Nest gefallen war. Wohl auch, um mich zu ermutigen, ein wenig meine Schüchternheit abzulegen. Tommi schien es nichts auszumachen, wenn er wieder mal in der Ecke stehen oder seine Strafzeit auf dem Flur absitzen musste, nachdem er sich mit Frank geprügelt hatte. Solche Strafen waren normal. Konflikte zwischen den Kindern hatten die Erzieherinnen sofort im Ansatz zu unterbinden. Konfliktbewältigung stand anscheinend nicht auf dem Lehrplan.
 
Zur umfangreichen Erziehung von Vorschulkindern gehörte es auch, uns mit der Arbeit der Werktätigen in den Betrieben vertraut zu machen. Um den Wert der Arbeit für die Gemeinschaft kennen und achten zu lernen, eine Vorstellung vom gesellschaftlichen Leben zu bekommen und das „sozialistische Heimatland“ lieben zu lernen. Während Stadtkinder eine große Auswahl volkseigener Betriebe vor der Haustür hatten, besuchten wir die LPG im Dorf. Die Genossenschaftsbauern zeigten uns Mähdrescher und Traktoren, und die Jungen waren schwer beeindruckt und wussten, dass sie auch einmal Mähdrescherfahrer werden wollten.
 
Die Vorschulgruppe durfte im Frühling sogar die „Gelbe Hummel“ besichtigen. Das war das gelbe Düngemittelflugzeug unserer LPG, das chemische Giftstoffe zur Kartoffelkäferbekämpfung auf die Felder streute. Wir Kinder kannten sie gut und riefen laut „Die Gelbe Hummel“, wenn sie über unsere Häuser und Gärten flog. Jedes Flugzeug, egal wie groß, war eine Sensation. Hand in Hand und in Zweierreihe spazierten wir zur Landebahn der Hummel am Dorfrand, einem holprigen Plattenweg aus Beton, mitten im Getreidefeld versteckt. Hier übte ich später Moped und Auto fahren. Genosse Michalek, Bauer und Pilot, begrüßte uns und zeigte uns das Herz der Hummel, erklärte uns geduldig alle Schalter und Hebel und erlaubte uns, kurz auf dem Pilotensitz Platz zu nehmen. Sogar Tommi war für den Bruchteil einer Sekunde mucksmäuschenstill und fasziniert. Pilot stand ganz weit oben auf der Berufswunschliste vieler Jungen und würde dort auch bleiben.
 
Unser Kindergartenjahr war gespickt mit Höhepunkten. Zu Weihnachten kam der Weihnachtsmann mit Larve und Bart. Wir sagten Gedichte auf und erhielten Schokoladenweihnachtsmänner und neues Spielzeug für unsere Gruppe. Zum Fasching verkleideten wir uns als Rotkäppchen, Cowboy, Indianer, Ungarin und Clown und schmückten unsere Gruppenräume mit selbst gebastelten Girlanden und Luftballons, die es auf Zuteilung für Kindergärten gab, und zu nationalen Kampf- und Feiertagen sangen wir die einstudierten Lieder aus dem ff.
 
Jeden Abend um siebzehn Uhr brachte mich der LKW-Bus wieder in mein Dorf zurück. Mein Weg vom Konsum nach Hause war im Winter besonders lang und dunkel. Die funze
lige Straßenbeleuchtung fiel häufig aus. Einmal schneite es stürmisch. Ich saß am Busfenster, schaute auf die schneebedeckten Felder, hörte den Wind fauchen und überlegte angestrengt, wie ich bei dem Wetter nach Hause kommen sollte? In Gedanken versunken merkte ich nicht, als der Bus auf der Landstraße hielt und jemand nach mir fragte. Es dauerte eine Weile, bis ich reagierte. Und schließlich strahlte ich, als mein Opa vor mir stand, gekommen, um mich bei dem Schneegestöber abzuholen. Ein Lichtblick in dunkler Zeit.
 
Zwei Jahre ertrug ich den Kindergarten. Auf Anraten einer kompetenten Erzieherin – „Da hat sie ein Jahr weniger zur Rente“ – entschieden sich meine Eltern gegen eine vorzeitige Einschulung. Der Stichtag zur Einschulung war der 31. Mai. Meine Mutter tröstete mich: „Nicht mehr lange und du kommst in die Schule.“ Ich harrte aus. In gespielter, glücklicher Kindergemeinschaft. Und entwickelte schon damals gewisse Ressentiments gegen gelenkte Freizeitbeschäftigung. Wohl, weil ich zu lange zu individualistisch aufgewachsen war. Bei Oma hatte ich ausschlafen, spielen, malen und kneten dürfen, was meiner Fantasie entsprang, und zu Mittag die leckersten Gerichte aus Omas Küche gegessen. Nun stand ich morgens um halb sechs auf, knetete nach Vorschrift und musste grundsätzlich alles aufessen, was auf den Teller kam. Zwar konnten wir durchaus unsere individuellen Fähigkeiten und Neigungen, Vorstellungen und Bedürfnisse entwickeln – soweit sie der Gemeinschaft nützten. Wir sollten uns im Kollektiv wohl fühlen und das Bedürfnis entwickeln, freundschaftlich allen dienlich zu sein. Unsere Selbstverwirklichung und individuellen Bedürfnisse sollten wir dem großen Ganzen unterordnen, nach der Doktrin: Was für die Gruppe gut war, war auch für den Einzelnen gut. Ich fühlte mich eher verraten und verkauft, frei nach dem alten Spruch meines Opas, „Kindergarten, Schweinebraten, hat die ganze Welt verraten.“

3 Kommentare:

  1. Ob alle den Kindergarten so schlimm empfanden? Das würde mich als Elterngeneration interessieren. Es hing sicherlich von den Persönlichkeiten der Kindergärtnerinnen und den anderen Kindern ab, nicht zuletzt auch von der Einrichtung selbst.

    AntwortenLöschen
  2. Vielen Dank für einen sehr genau beschreibenden Beitrag . Ich kann fast Alles so bestätigen . Es war sehr unterhaltsam zu lesen . Trotzdem sehne ich mich oft genau nach diesen festen Regeln im Kiga , wobei mir selbst immer unwohl war wenn man den Anforderungen und Richtlinien in der Einrichtung nicht gerecht wurde . Gern würde ich noch Geschichten aus ihrer Schulzeit lesen , trefflich beschrieben .!?

    AntwortenLöschen
  3. Hallo , bin durch das Bild des Buches auf den Beitrag aufmerksam geworden. Das war so A5 groß und glänzend . Die Geschichte ist Super . Bin auch Jahrgang 72 . Und erst mit 4 in den Kindergarten . Allerdings vermisse ich bis Heute die damalige Sicherheit und Fürsorge . Außer das abessen von Allem , das war schlimm .

    AntwortenLöschen