Montag, 27. Mai 2013

Im Gleichschritt -- Marsch! Zivilverteidigung in der Schule


Eine meiner Lieblingsgeschichten über die DDR ist die über unseren Sommerlehrgang Zivilverteidigung. Ende der neunten Klasse, drei Wochen vor den großen Ferien, hatten wir keinen Unterricht mehr. Stattdessen hatten wir Mädchen Zivilverteidigung, kurz: ZV.
 
Zivilverteidigung galt als „fester Bestandteil der sozialistischen Landesverteidigung“. So stand es im Lehrbuch Zivilverteidigung Klasse 9, Kapitel Eins. Der Lehrgang war Teil des Wehrunterrichts, der ab 1978 für alle neunten Klassen Pflichtveranstaltung war. Unser friedliebendes Land hielt es für notwendig, alle Bürger zu mobilisieren, um den „imperialistischen Kriegstreibern in den Arm zu fallen und ihre Absichten zu durchkreuzen“, schrieb besagtes Lehrbuch. Unter Einsatz unseres Lebens, versteht sich, sollten wir den militärischen Schutz des Sozialismus gewährleisten und „im Falle einer imperialistischen Aggression an der Seite der Sowjetunion“ den Feind schlagen. Unser Lehrbuch lieferte die notwendige ideologische Argumentationskette und ein klares Feindbild. Zur Erhaltung des Friedens Krieg spielen. Was für eine widersinnige Argumentation -- sagte ich aber nicht laut.
 
Drei Wochen vor Schuljahresende schlüpften wir Mädchen in olivgrüne Uniformen und marschierten über das Schulgelände. Während die Jungen ins Wehrlager fuhren, meist ein Kinderferienlager der nahen Umgebung. Das fanden wir fetziger. Wer allerdings als ideologisch aufmüpfig galt, musste bei uns Mädchen mitmachen. Um Zersetzungserscheinungen im Wehrlager vorzubeugen. Der Juni war warm. Wir stöhnten über die Hitze, schwitzten in unserer Tarnkluft und verfluchten die schweren Lederstiefel. Und freuten uns über den Ausfall von Mathe, Physik und Chemie. Dass wir auch attraktiv in Oliv aussahen, davon versuchten uns zahlreiche Fotos im Lehrbuch zu überzeugen: Mädchen mit ernster Miene und weißem Strickrolli unter der Uniformjacke standen stramm in Reih und Glied, ihre langen Haare seidenglatt über die Schultern fallend. Wenn die mal nicht beim Schießen vor die Augen fielen.
 
Mindestens eine von täglich sechs Stunden hatten wir Ordnungsübungen. Schließlich seien, so unser Lehrbuch, „bei Katastrophen oder im Verteidigungsfall“ Aufgaben zu lösen, die „von den Einsatzkräften der Zivilverteidigung und von allen Bürgern unverzügliches, entschlossenes und einheitliches Handeln erfordern, um das Leben, die Gesundheit und das Eigentum der Bürger sowie die Werte der sozialistischen Gesellschaft zu schützen.“ Weiter erklärte es, dass zur „Gewährung eines schnellen und kollektiven Handelns“ aller Personen die Leitung ihres Einsatzes „mit Hilfe kurzer eindeutiger Kommandos“ erfolge, „die für jeden ohne langwierige Erläuterungen verständlich sind.“ Das klang erstmal einleuchtend.
 
Also exerzierten wir: Grundstellung, Blickwendungen, Gleichschritt, Grußerweisungen, Antreten, Ausrichten des Zuges und Marschieren mit Gesang. „In Linie zu drei Gliedern antreten – marsch!“ brüllte unser Ausbilder. Seine Kommandos klangen knackig. „Im Laufschritt – marsch!“ Ich kam mir blöd vor beim Laufen, Arme in Brusthöhe angewinkelt, Ellenbogen steif nach hinten, Hände zur Faust geballt und durch „rhythmisches Durchschlagen der angewinkelten Arme“ die Bewegung unterstützend. Ich würde bestimmt nicht bei Havarie oder Luftangriff so herumlaufen. Ich war doch nicht bei der Armee.
 
Die Schutzausbildung schien dagegen sinnvoll. „Verhalten in Gefahrensituationen“ und „Retten und Bergen von Menschen“ waren sicher wichtige Themen. Selbst wenn der Klassenfeind nicht angreifen, sondern „nur“ ein Feuer ausbrechen würde. Als Verhaltensregel Nummer Eins beim „Retten und Bergen von Menschen“ notierte ich in mein ZV-Heft: Das Tragen zweckmäßiger Kleidung. In der Tat erwies sich unsere Uniform als äußerst zweckdienlich. Wir bauten Behelfstragen aus Jacken und Gürteln und schleppten uns gegenseitig fröhlich gackernd umher. In unseren Heften vermerkten wir die einzelnen Handlungsschritte bis zum Eindringen in „zugängliche Schadenelemente“. So hießen zusammengebrochene Gebäude. Begriffe wie „Schwalbennest“, „Trümmerkegel“ und „versperrter Raum“ blieben dennoch für mich abstrakte Bilder aus Kriegsfilmen.
 
Um gar nicht erst unter Trümmern zu landen, beschäftigten wir uns mit der „geschützten Unterbringung“, laut Lehrbuch der „Hauptmethode des Bevölkerungsschutzes bei imperialistischen Aggressionshandlungen“. Als Schutzräume galten alle unterirdischen Keller, Hohlräume, Schachtanlagen, Tunnel und Tiefgaragen. In Gruppen sollten wir die „Grundanforderungen an einen Schutzraum“, funktionelle Gliederung, Ausstattung und Verhalten im Schutzraum diskutieren. Ich war wenig überzeugt von der Sicherheit eines solchen im Angesicht moderner Waffen und hätte auch nicht gewusst, wohin ich im Ernstfall hätte laufen sollen. Die Theorie war ausgefeilt. Die Praxis wohl eher ein Chaos.
 
Auf einen Angriff mussten wir jeder Zeit vorbereitet sein. Ein Klingeln, und wir waren in Alarmbereitschaft, so die Vorstellung der Lehrbuchautoren, die hilfsbereit die unterschiedlichen „Sirenensignale zur Warnung und Alarmierung“ graphisch dargestellt hatten. Das Unterscheiden war schwierig. Kurz, lang, lang oder kurz, kurz, lang, lang. War das jetzt Feueralarm, Katastrophenalarm, Luftalarm, chemischer Alarm, gefahrdrohende Situation oder Entwarnung? Oder rief die Schulklingel zur Hofpause? Bei Angriff krochen wir unter unsere Tische im Klassenraum, bei Entwarnung wieder heraus. Unsere Schule hatte keinen Schutzraum. Die Tische erschienen mir jedoch wenig wirkungsvoll im Falle eines Luftangriffs.
 
Unser Ausbilder beruhigte uns: „Zum Schutz der Atemwege vor gesundheitsschädigenden Stoffen tragen wir zusätzlich eine Maske.“ Aha. „Die können wir uns jederzeit selbst herstellen. Das erforderliche filtrierende Material ist in jedem Haushalt vorhanden.“ Ich war gespannt. Aus den Nylonstrumpfhosen unserer Mütter (den kaputten, versteht sich, heile waren wertvoll und meist aus dem Westen) bastelten wir Strumpfmasken. Deren Anfertigung war mit präzisen Abbildungen im Lehrbuch beschrieben. Sechs Lagen Zellstoff wurden zu einem Zellstoffpäckchen gefaltet und „so in einen Damenstrumpf eingelegt, dass es weder Falten schlägt noch zerknittert wird“. Der Strumpf wurde sodann zu beiden Seiten des Päckchens verknotet, die fertige Maske über Mund und Nase gelegt und mit den Enden des Strumpfes hinter dem Kopf zusammengebunden. Passt!
 
 
Vorsorglich weist das Buch darauf hin, nur durch den Mund zu atmen und zusätzlich eine Schutzbrille zu tragen. Außerdem würden diese Atemschutzmittel nur vor Mikroben und radioaktivem Staub schützen. Na toll. Dann konnte uns ja nichts mehr passieren, spotteten wir. Wer fürchtete sich den schon vor ionisierender Strahlung? Das Tragen der Strumpfmaske fanden wir peinlich und ein bisschen unangenehm. Zum Glück mussten wir die Masken nur zur Anprobe im Klassenraum umbinden. Den Jungs blieb die Anfertigung von Strumpfmasken erspart. Sie übten mit echten Bevölkerungsschutzmasken.
 
Um Gefahrensituationen möglichst frühzeitig zu erkennen, übten wir Beobachten und Melden, also: viel sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Das klang wie bei Winnetou auf dem Kriegspfad. In den Doberaner Wiesen tat sich jedoch wenig. Also wählten wir eine befahrene Kreuzung in Stadtmitte. Zu zweit saßen Jugendfreundin Susemihl und Jugendfreundin Holtz am Karl-Marx-Platz, beobachteten die Straße und legten eine Beobachtungstabelle an: „8.32 Uhr: reger Verkehr; 8.44 Uhr: SMH-Wagen (Schnelle Medizinische Hilfe) aus Richtung Kröpelin; 8.50 Uhr: bepflasterter Trabant; 8.53 Uhr: VW rot, Renault rot; 9.02 Uhr: Herr Ahrens (unser stellvertretender Schuldirektor) wackelt im Trabant mit Zeigefinger.“ Der Verkehr war damals bedeutend ruhiger und jedes auffällige Auto wurde mangels anderer Vorkommnisse schriftlich festgehalten. Nach zwei Stunden erstatteten wir unserem Ausbilder vorschriftsmäßig Meldung.
 
Auf das nächste Thema unserer Ausbildung, „Selbst- und gegenseitige Hilfe“, freuten wir uns, denn das Erlernen von Maßnahmen der Ersten Hilfe war vor allem nützlich, wenn man seine Moped-Fahrerlaubnis machen wollte. Ich hatte die Moped-Prüfung mitsamt obligatorischem Erste-Hilfe-Kurs bereits in der achten Klasse absolviert. Ich kannte die Themen. Ich kannte die Fotos. Auf dem Spielplatz der Erstklässler legten wir uns gegenseitig in die stabile Seitenlage oder die Beine nach oben. Schocklagerung. An einem Übungsphantom übten wir äußere Herzmassage und Atemspende. Unser Ausbilder zeigte uns Lichtbilder mit Schnittwunden, Verbrennungen, Verätzungen, Vergiftungen und sonstigen Verletzungen. Jana konnte kein Blut sehen und plumpste vom Stuhl. Wir lagerten ihre Beine hoch. Wir übten das Anlegen von Druckverbänden, Blutsperren, Maßnahmen bei Knochenbrüchen und die Aufnahme eines Wirbelsäulengeschädigten. Zur Abschlussprüfung wurden Freiwillige mit Theaterblut präpariert. Durch gezieltes Fragen oder Abtasten und gespielte Aufschreie der „Verletzten“ sollten wir ihre Schädigung herausfinden und entsprechend versorgen. Jana simulierte eine Verbrennung dritten Grades und kicherte, als wir sie mühsam auf die Trage zerrten und abtransportierten.
 
Die Geländeausbildung machte mir am meisten Spaß. Ich fühlte mich wie eine Pfadfinderin. Wir lernten viele brauchbare Fakten: Moos wächst an der Wetterseite von Bäumen, die Jahresringe von Baumstümpfen liegen auf der Nordwestseite am dichtesten, Ameisen bauen ihre Hügel an der Südwestseite von Bäumen und alte Kirchen stehen mit dem Turm nach Westen und dem Schiff nach Osten. Wir schätzten Entfernungen nach Erkennbarkeit charakteristischer Umrisse und erfuhren, dass Kirchen ab 15.000 Metern und Fabrikschornsteine ab 6.000 Metern erkennbar seien. Und wir bestimmten Himmelsrichtungen und Marschrichtungszahlen mit dem Marschkompass. Das Messen von Entfernungen (E) mit Hilfe des Schrittmaßes (SM) erforderte mathematisches Geschick. Nachdem zuerst das persönliche Schrittmaß ermittelt wird – aus der Errechnung des arithmetischen Mittels mehrerer Werte der für eine abgeschrittene 100-Meter-Strecke benötigten Anzahl von Doppelschritten (DS) – wird nach der Formel E ist gleich DS mal 100 durch SM die Entfernung in Metern errechnet. Klingt kompliziert. Ist es auch. Daher schätzten wir Pi mal Daumen.
 
Derart lebenswichtige Kompetenzen für das Orientieren im Gelände konnten sich in den unterschiedlichsten Situationen als hilfreich erweisen. Wie zum Beispiel auf meinen Reisen in den hohen Norden des amerikanischen Kontinents. Dumm nur, dass in den Nationalparks Alaskas und Kanadas weder Fabrikschornsteine noch Kirchen zu finden waren. Aber immerhin konnte ich mich noch Jahre nach meiner Geländeausbildung in der subarktischen Wildnis mittels topographischer Karten orientieren. Das hatte ich gelernt. Ebenso wie das Zeichnen von Geländeskizzen. Mein ZV-Heft beinhaltet Ansichts- und Grundrissskizzen der Doberaner Wiesen, angefertigt am 24. Juni 1988 um acht Uhr. Eingezeichnet sind Wasserwerk, Hilfsschule und Gartenanlagen als Quadrate, Bäche als krumme Linien und Bäume als verkorkste Omega-Zeichen. Im Doberaner Mischwald bauten wir auch Zweighütten und Windschutze als behelfsmäßige Unterkünfte. Rüdiger Nehberg hätte an unserem Survival-Training seine wahre Freude gehabt.
 
Unser Lehrbuch führte uns bei allem Spaß unwillkürlich den vermeintlichen Ernst der Lage wieder vor Augen: „Die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz des Lebens und der Hilfeleistung setzen voraus, dass sich die Hilfskräfte im Gelände zweckmäßig bewegen, sicher orientieren und richtig verhalten.“ Warum? Um unter allen Bedingungen, bei Tag, Nacht oder Wirkung gegnerischer Waffen, schnell und sicher zum Einsatzort zu gelangen. Auch ohne Einsatzort bewegten wir uns mittels aufrechtem oder gebücktem Gehen, Kriechen, Gleiten oder kurzen und langen Sprüngen grazil und lautlos wie die Indianer im Gelände. „Jugendfreundin Susemihl! Bis zum Waldrand gleiten – vorwärts!“ Ich warf mich auf den Boden, presste mich ins Gras, wobei mein Kinn knapp den Boden berührte, Blick nach vorn, und robbte vorwärts. Zum Glück nur wenige Meter. Ich war kein Freund dieser Übungen.
 
Den Abschluss der ZV-Ausbildung bildeten die „Tage der Wehrbereitschaft“. Jetzt durften wir unser erlerntes Wissen zur Anwendung bringen. Gemeinsam mit den Jungen, die aus dem Wehrlager zurückgekehrt waren, machten wir uns auf den Abschlussmarsch. Wir sangen lauthals: „Wenn wir schreiten Seit an Seit“, liefen in Sechsergruppen und mit Laufkarte von Station zu Station, und schnatterten von unseren Erlebnissen in den Lagern. Wir hangelten über Bäche, schwangen an Seilen zurück, schossen auf Scheiben, legten einen Verletzten in die stabile Seitenlage und beatmeten einen Dummie mit Herzdruckmassage. Wir schätzen die Entfernung vom Waldrand bis zum Nachbardorf und liefen einen Kilometer mit Gasmaske, der wir zuvor das Ventil aufgedreht hatten, denn ersticken wollte niemand. Die beste Gruppe erhielt eine Torte. Wir schlugen unsere Kontrahenten um vierzig Minuten und drei Mann, die sie im Bach verloren. An den anschließenden Festschmaus erinnere ich mich nicht mehr, wir freuten uns auf die Ferien.  
 
Die ordnungsgemäße Vertiefung meiner wehrpolitischen Kenntnisse in der elften Klasse blieb mir – Gorbi sei Dank! – erspart. Das Krieg spielen hatte ein Ende, Wehrpflichtverweigerungen wurden legal. Ein Gutes hatte die Ausbildung vielleicht, vom Orientieren im Gelände mal abgesehen: Die Anekdoten unseres Sommerlehrgangs in Zivilverteidigung sorgen im Freundeskreis immer wieder für gute Unterhaltung.

Montag, 20. Mai 2013

PA, TZ und ESP -- Oh jemine!


Was ist eigentlich ein Ambulatorium?
Jeder hat sie, jeder nutzt sie. Alle haben ihre eigenen, damit sie uns das Leben erleichtern – sofern wir sie verstehen. Dann machen sie uns zum Insider. Verstehen wir sie nicht, sind wir außen vor. Von Abkürzungen ist die R.e.d.e. Die eiligen Buchstabenkettchen und Akronyme wurden nicht von Fanta4 erfunden, wenn auch diese fröhlich-sprachspritzigen HipHoper in eingängiger Weise die geballte Ladung neudeutschen Abkürzungswahns melodisch aufreihten, wir mitsummten und wussten, wir gehören dazu: „MfG“– Mit freundlichen Grüßen, 88 Abkürzungen in drei Minuten. Seit der Antike erfreuen wir uns dieser kernigen Modewörter. Das Abkürzungswörterbuch verzeichnet 50.000 Einträge, nahezu stündlich werden es mehr.
 
In der DDR begann unsere Kürzel-Alphabetisierung bereits in der Schule. Der allgemeine Bildungspfad durchzog sich von der POS (Polytechnische Oberschule) zur BBS (Betriebsberufsschule) oder FS (Fachschule), oder über EOS (Erweiterte Oberschule) zur HS (Hochschule), IH (Ingenieurhochschule), TH (Technische Hochschule), PH (Pädagogische Hochschule), OHS (Offiziershochschule) oder sogar PHS (Parteihochschule). Wir organisierten uns in der FDJ (Freie Deutsche Jugend), mit FR (Freundschaftsrat) und GOL (Grundorganisationsleitung), in Sportgemeinschaften vom ASK (Armeesportklub) oder DTSB (Deutscher Turn- und Sportbund) und kämpften in Spartakiaden und Olympiaden. Im Deutschunterricht interpretierten wir Texte von KuBa (Kurt Barthel) und BB (Bertolt Brecht) und diskutierten in Jugendstunden den WS (Wissenschaftlichen Sozialismus). Eine typische Unterhaltung zwischen Vater und Tochter (15 Jahre), die soeben aus der Schule kommt, gestaltete sich möglicherweise wie folgt:
Vater: Hallo, Schatz. [Kuss auf die Wange.] Na, was gibt’s Neues in der Schule?  
Tochter (eher gelangweilt): Nichts Besonderes. In Geo hatten wir die Bodenschätze der SU. In Stabi mussten wir einen Artikel im ND lesen. Urst langweilig. In Mathe hat mein SR 1 gestreikt. Muss wahrscheinlich ’ne neue Batterie rein. Physik fetzte. Der Polylux fiel aus und Herr Block war total nervös. Stolperte über einen Papierkorb, den wir ihm in den Weg stellten, als er rückwärtsging. Wir haben alle urst gelacht.
Vater: Hast Du schon deinen neuen Stundenplan?
Tochter: Ja. Dienstags haben wir UTP. Alle zwei Wochen PA. Die anderen Wochen ESP und TZ. Die letzten drei Wochen vor den Ferien haben wir ZV. Die Jungs fahren ins ZV-Lager. Wir Mädchen haben ZV in der Schule. Das ist echt unfair. Und alle, die an die EOS wollen, mussten eine Karte ausfüllen: was sie mal werden wollen und wo sie Mitglieder sind. Ich habe FDJ, DSF und GST angegeben. Und meine AGs. Wir mussten sogar die PKZ eintragen. Zum Glück hatte ich meinen Persi dabei.
Vater: Na, gut dass du den dabei hattest.
Tochter: Und ab der Elften müssen wir ein Fach als FKR dazu wählen. Ich mache vielleicht Französisch. WPA haben wir dann auch. Was hast’n du heute gemacht?
Vater: An der Garage weiter gebaut. Nebenan war heute die SMH. August hatte einen Schlaganfall. Die haben ihn gleich mitgenommen.
Tochter: Oh. Hoffentlich geht es ihm wieder gut. Papi, weiß du was, wir sollen eine Idee entwickeln, für die MMM. Bis nächste Woche. Keine Ahnung, was ich da machen soll.
Vater: Dir fällt schon was ein. Mami hat Dir übrigens einen Zettel hingelegt. Du sollst nachher zum Konsum gehen und fünf R6 Batterien holen. Sie war gestern in der HO und hat die vergessen. Auf dem Weg kannst du gleich bei SERO die Kronkorken abgeben. Und bring eine FF mit, und die Fuwo. Die NBI wird schon weg sein, aber du kannst ja mal gucken…
Tochter: Mach ich. Kann ich mir das Mosaik kaufen?
Vater: Ja. Dann kauf aber auch was für deine Geschwister.
Tochter: Die FRÖSI?
Vater: Ja, gut. Mami traf gestern übrigens Frau Tauber. Vom RFT-Laden. Diese Woche sollen die neuen SKR 700 reinkommen. Sie will uns einen zurückstellen.
Tochter: Super. Das wär ja toll. Du, stell dir vor, Petra aus der A-Klasse soll zur KJS. Und weißt du was? Micha hat sich von seinem Jugendweihegeld eine Simson gekauft. Aber keine dunkelgrüne wie meine, sondern eine hellgrüne. Er wollte eigentlich eine MZ. Hat ihm aber seine Mutter verboten. Und im SpoWa haben sie heute Schlittschuhe verkauft. Ich brauch doch neue. Meine alten sind zu klein. Der Weihnachtsmann könnte sie mir ja bringen. Ich hab’ jedenfalls welche zurücklegen lassen. Können wir nachher noch mal hinfahren?
Vater: Naja, wenn’s sein muss, gut.
Tochter: Und in zwei Wochen haben wir Subbotnik, am Sonnabend. Dann könnt ihr mich schon früher von der Schule abholen, um halb zwölf.

Nun, haben Sie alles verstanden? Keine Frage, wenn Sie im Osten aufwuchsen. Wenn nicht, prüfen Sie Ihr Wissen; am Ende gibt’s die Auflösung für die Kürzel im Gespräch.
 
Abkürzungen durchzogen nicht nur unseren schulischen Alltag. Beliebter Tummelplatz für Abkürzungen waren auch Zeitungsanzeigen. Eine Heiratsannonce im Magazin, Heft 8/1963, las sich folgendermaßen: „Sekretärin (Berlin) 24/1,64, ansprech., wü. sich liebev. charakterf. aufgeschl. Ehepart. Bes Int.: klass. Musik, Theater, Natur, harm. Heim, Stud., Akadem., Lehrer erw.“  Oder so: „Eins. jg. Mann, 28/1,65, Nichttänzer, Schichtarbeiter, musik., film- u. naturlieb., wünscht aufricht. Mädchen zw. spät. Heirat kennenzul. Nur ernstgem. Bildzuschr. Mögl. Raum Bln. erw.“ Hoffen wir, dass er nicht lange einsam blieb. Es ging auch noch knapper: „Drd, 45/1,75, FSA, m.-l. WA, NR“ Die Übersetzung: „Dresdner, 45/1,75, Fachschulabsolvent, marxistisch-leninistische Weltanschauung, Nichtraucher.“ Ähnliche Anzeigen erschienen in den Zeitschriften Für Dich oder Magazin, in der Berliner Wochenpost allein jährlich etwa 13.000.
 
Viele Kürzel und DDR-eigene Begriffe entstanden in kommunikativen, weil Linientreue ausdrückenden, Zwangssituationen, oder verkörperten Machtgefüge. Das begann in der Mehrparteienlandschaft. Ja, die gab es tatsächlich. Neben der SED existierten die Blockparteien DCU, DBD, LDPD und NDPD – theoretisch eigenständig, aber auf SED-Kurs. Genossenschaften folgten, wie AWG, BHG, FPG, GPG, LPG, PGH und PGB. Betriebe waren „volkseigen“, ergo VEB (Volkseigener Betrieb), ebenso wie Güter (VEG) und Verlage (VEV). Wahrscheinlich hatten auch Gewerkschaften ihre Abkürzungen. Es gab immerhin fünfzehn. Die kannte aber kaum einer, da alle im Dachverband FDGB organisiert waren, im politisch-ideologischen Machgefüge von der SED instrumentalisiert. Von den Ämtern wie dem ASMW (Amt für Standardisierung, Messwesen und Warenprüfung) will ich gar nicht erst anfangen.
 
Viele Abkürzungen gab es nur auf dem Papier, und das ist bekanntlich geduldig. Abkürzungen wie EVP für „Einzelhandelsverkaufspreis“ sprachen wir nicht. Im Alltagsdeutsch hieß das weiter „Preis“. Wir sagten auch nicht „ETW“ für Eierteigwaren, sondern Nudeln. EDV war gängiger, doch da „Elektronische Datenverarbeitung“ weniger elektronisch als viel mehr alphanumerisch erfolgte, übersetze man lakonisch EDV mit „Ende der Vernunft“. Konfusion im Kopf durch CAD/CAM = „Computer am Dienstag, Chaos am Mittwoch“.
 
Heute weiß jeder im Land, egal ob dies- oder jenseits ehemaliger Sprachgrenzen, dass wir im Osten nicht den Führerschein, sondern die Fahrerlaubnis machten, keine Zwei-Zimmer-, sondern eine Zwei-Raum-Wohnung bewohnten, und nicht Hot Dogs, sondern Ketwurst, und Broiler statt Grillhähnchen aßen. Das Angebot war das Sortiment, denn Sonderangebote gab es nicht. Und im Sommer fuhren wir an den FKK, nicht an irgendeinen Strand.
 
Unsere Eltern arbeiteten in Kollektiven und Brigaden und aßen mittags in der Werkküche. In unserer Freizeit betrieben wir Popgymnastik und nicht Aerobic. Wir hörten neben NDR2 "unser" DT 64 und schauten DFF. Unser DJ war ein Schallplattenunterhalter. Wir kauften im Konsum und HO, die Besserverdiener gern im DELI und Ex. Und im Centrum, nicht im Kaufhaus. Wir hatten Dederon, Malimo, Plaste und Elaste, Silastik und Sprelacart, nicht Nylon, Perlon, Molton, Plastik, Lycra und Resopal. Unsere Mütter engagierten sich im Elternaktiv, nicht im Elternbeirat. Wir besuchten unsere pensionierten Rentner nicht im Alters- sondern Feierabendheim. Unsere Manager waren „Leiter-Kader“ und unsere Spione im imperialistischen Ausland als „Kundschafter des Friedens“ im Einsatz.
 
Einige Sprachmythen muss ich revidieren. Wir sagten nicht Textilverbundelement, sondern Knopf, und das Ambulatorium kannte ich nur von meiner Alfons Zitterbacke-Schallplatte, denn Rostock hatte eine Poliklinik. Wir sagten auch nicht „Geflügelte Jahresendfigur“, sondern Weihnachtsengel. Diese hübsche Umschreibung wurde durch die beliebte Satirezeitschrift Eulenspiegel bekannt, die stets Kurioses abdruckte, so auch einen von einer Leserin eingesandten, realen Beipackzettel mit der Aufschrift „Jahresendflügelfigur“. Unseren Volkspolizisten nannten die Kinder der 1950er und 60 Jahre noch „Vopo“ oder „Weiße Maus“, in den 80er Jahren hieß er „Bulle“. „Schau“ war alles in Berlin, nicht aber an der Küste, und den MuFuTi, den Multifunktionstisch, lernte ich erst im DDR-Museum in Berlin kennen, denn meine Eltern und Verwandten besaßen keinen. 
 
Aber was waren schon unsere Abkürzungen gegen heutige Berufs- und Jargon-spezifische Abbreviationen, Akronyme, Codes, Kürzel und Emoticons. Da liest man ILUVEMIDI (ich liebe und vermisse dich), MUMIDIRE (muss mit dir reden), WIDUMIMIGE (willst du mit mir gehen?) oder ZL (zieh Leine) auf Handys. Politiker und Wortakrobaten bereichern unseren Wortschatz mit Konstrukten wie RkReÜAÜG, dem „Rinderkennzeichnungs- und Rindfleischetikettierungsüber-wachungsaufgabenübertragungsgesetz“, mit 86 Buchstaben das längste Gesetz der Welt. An den VHS (Volkshochschulen) werden womöglich bald Kurse in NL (Netz-Latein) angeboten, die dem gestressten Bürosachbearbeiter helfen, seine wachsende Flut an E-Mails mit englischen Abkürzungen wie ASAP, CU, FYI oder LOL zu entziffern, und der Normalbürger lässt sich demnächst ein ZefAMeF, ein Zentrum für Abkürzungsmerkfunktionen, ins Gehirn implantieren, über das Techniker vermutlich von Natur aus verfügen.

Kleines Glossar alltagstauglicher ostdeutscher Abkürzungen und Wendungen:

Geo: das Schulfach Geographie; außer politischen Inhalten hat sich bis heute wenig geändert
SU: Sowjetunion, unser „Big Brother“ im Osten; UdSSR war politisch korrekter, aber zu lang
Stabi: auch Stabü, so sagten wir Schüler, da informeller als das offizielle Staatsbürgerkunde
ND: Neues Deutschland, DAS Organ des Zentralkomitees der SED, die ich aber nie lesen musste, da meine Eltern die Junge Welt abboniert hatten
SR1: vom Staat subventionierter Schul-Rechner, ab Klasse 7 im Mathematikunterricht eingesetzt; unser Jahrgang 1985/86 war der erste, der mit Taschenrechner statt Rechenschieber rechnen durfte
Polylux: einziger Overhead-Projektor aus DDR-Herstellung, Kennzeichen: laute Lüftung
urst: wie Wurst ohne W, soll heißen „sehr, total“, aber nicht in der DDR erfunden
UTP: obligatorischer Unterrichtstag in der Sozialistischen Produktion ab Klasse 7
PA: ob unsere Produktive Arbeit in Betrieben tatsächlich produktiv war, bezweifle ich, aber wir lernten Gewinde schneiden, Punktschweißen und Löten
ESP: Einführung in die Sozialistische Produktion, ähnlich der Wirtschaftslehre, nur sehr viel praxisferner; im Grunde das langweiligste Schulfach überhaupt
TZ: Technisches Zeichnen, Teil des UTP; durchaus lehrreich, wollte man Architekt werden
ZV: Zivilverteidigung, Teil des Wehrunterrichts an den Schulen
EOS: Erweiterte Allgemeinbildende Polytechnische Oberschule, das ostdeutsche Gymnasium; führte nach der POS in vier, seit 1984 in zwei Jahren zum Abitur nach der 12. Klasse
FDJ: Freie Deutsche Jugend, einzige staatlich anerkannte Jugendorganisation
DSF: Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, in der 6 Millionen Ostdeutsche (1985) die „Freundschaft des Herzens und der Tat“ in Schulen und Betrieben zelebrierten
GST: Gesellschaft für Sport und Technik, paramilitärische Jugendorganisation, in der vor allem Jungen gern, weil besonders günstig, die Fahrerlaubnis machten
AGs: Arbeitsgemeinschaften, außerunterrichtliche, kostenlose, „staatlich sinnvolle“, für gute Beurteilung wichtige und meist interessante Freizeitangebote in Schulen und Pionierhäusern
PKZ: Personenkennzahl, stand im „Persi“ und in der Zentralen Personendatenbank in Berlin
Persi: Personalausweis (PA), erhielt jeder Bürger ab 14 und war stets am Mann zu tragen
FKR: schulischer Fakultativer Kurs nach Rahmenplan ab Klasse 7, üblicherweise Englisch
WPA:  Wissenschaftlich-praktische Arbeit in EOS, mehr praktisch als wissenschaftlich
SMH: Schnelle Medizinische Hilfe, im Ernstfall fast so schnell wie die westliche „Erste Hilfe“
MMM: Messe der Meister von Morgen, auf der kleiner und großartiger Ingenieurs-Nachwuchs mit meisterlichen Erfindungen oder marginalen Verbesserungen aufwartete
Konsum: hat nichts mit langem “u” und Verbrauch zu tun, sondern heißt bei betonter erster Silbe „Lebensmittelgeschäft“ der Konsumgenossenschaft
R6: Angabe einer Batteriegröße (AA); hat nichts mit gleichnamiger Zigarettenmarke zu tun
HO: Handelsorganisation, staatliches Einzelhandelsunternehmen in Volkseigentum
SERO: stand für VEB Kombinat Sekundär-Rohstofferfassung und dessen Annahmestellen, die flächendeckend in jedem Ort Altstoffe aufkauften und in den Wirtschaftskreislauf rückführten
FF: eigentlich FF-Dabei, einzige DDR-Fernsehzeitschrift, mit 1,5 Mio. Exemplaren Auflage
Fuwo: Die Neue Fußballwoche, wöchentliche Fußballzeitschrift des DFV für 50 Pfennig
NBI: Neue Berliner Illustrierte, themenvielfältige Wochenzeitschrift und stets vergriffen
Mosaik: beliebteste Comiczeitschrift, in der nach den Digedags (1955-75) die Abrafaxe (nicht mehr ganz so cool und witzig, aber besser als Atze) Abenteuer in Raum und Zeit erlebten
FRÖSI: von Fröhlich sein und singen, Zeitschrift für Pioniere und andere kindliche Leser
RFT: Verbund verschiedener Hersteller von Rundfunk- und Fernmelde- bzw. Fernsehtechnik, später (wohl nicht ganz treffend) mit Repräsentant Fortschrittlicher Technik übersetzt
SKR 700: Stereo-Kassettenrekorder, für 1.540 Mark und Beziehungen ab 1985 im Handel; aber mit nur einem Kassettenteil uncooler als Doppelkassettenrekorder des Westens
KJS: Kinder- und Jugendsportschule, Kaderschmiede für Olympiasieger und Dopingopfer
Simson: Moped aus dem VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk Simson Suhl, das nicht mehr zur Vogelserie (Schwalbe, Spatz, Star) gehörte, sondern gänzlich unpoetisch  „S51“ hieß
MZ: der Inbegriff des ostdeutschen Motorrads; eine schwarze MZ aus dem VEB Motorradwerk Zschopau, robust und sportlich, davon träumte jeder Jugendliche
SpoWa: Sportwaren, Kaufhaus für Sport- und Campingartikel, Sport- und Pionierkleidung
Subbotnik: (meist un-)freiwilliger, unbezahlter Arbeitseinsatz am Sonnabend, von Pionieren gern für Altstoffsammelaktionen genutzt; von subota (russ.) = „Sonnabend“

Sonntag, 12. Mai 2013

Frühsport mit Neptun im Kinderferienlager



Ich mochte keine Ferienlager. „Wieso denn?“ wird der geneigte Leser an dieser Stelle vielleicht erstaunt fragen, sofern er im Osten aufgewachsen ist, und enthusiastisch rufen: „Ferienlager in der DDR – das war doch der schönste Platz im Sozialismus.“ Ich widerspreche dieser einhelligen Meinung nur ungern, aber ich fühlte mich in Ferienlagern als Kind nicht wohl. Ich will auch erklären warum, und damit alle Leser, die diese ostdeutsche Institution nie kennen gelernt haben, in die Eigenheiten des sozialistischen Ferienlagerlebens einweihen.
Ich war ein eher schüchternes Kind, fremden Kindern gegenüber zurückhaltend. In den Ferien, die im Idealfall neun Wochen dauerten, spielte ich bei meiner Oma oder mit Freunden im Dorf. Am liebsten las oder malte ich. Ich reiste auch gern mit meiner Familie in den Urlaub, und in der ersten Klasse fuhr ich sogar allein mit dem Zug zu meiner Tante und vermisste meine Eltern überhaupt nicht.
Bei dem Wort Ferienlager jedoch wurde ich skeptisch. Ich war kein Freund von organisierten Massenveranstaltungen, und da ich ein eher schüchternes Kind war, fühle ich mich nicht wohl inmitten von Gruppen fremder, tobender Kinder. Doch ich war neugierig. Mein Vater malte seine Ferienlagererlebnisse in leuchtenden Farben, und meine Mutter, die in einem religiösen Haushalt aufgewachsen und nie in Betriebsferienlager gefahren war, schwärmte von ihren Rüstzeiten: „Pass auf, es wird dir gefallen. Dort sind viele Kinder. Du findest sicher eine gute Freundin.“
So kam es, dass ich nach der zweiten Klasse erstmals in ein Sommerferienlager fuhr. Diese waren eine durchaus sinnvolle Einrichtung. Organisiert und ausgestattet von den Betrieben der Eltern, konnten werktätige Mütter und Väter ihre Sprösslinge für den symbolischen Betrag von fünfzehn Mark in die Ferien schicken – Anreise, Vollverpflegung und Unternehmungen inklusive. Morgens in aller Herrgottsfrühe lieferte meine Mutter mich auf dem Bahnhof ab. Es war noch dämmrig. Der Tau lag auf den Bahnhofsbänken. Ich fror in meiner dünnen Sommerjacke. Hunderte von Kindern warteten mit Koffern, Taschen und Rucksäcken auf dem Bahnsteig. Vielleicht waren es weniger. Aber es waren viele. Zu viele.
Der Abschied war qualvoll. Mir war zum Heulen. Meine Mutter wollte mir Mut machen: „Ich wünsch’ Dir viel Spaß, Schatz. Nimm es nicht so schwer.“ Sie hatte gut reden. Ich umklammert sie fest und versuchte, meine Tränen zu unterdrücken. Im Zug suchte ich mir einen Fensterplatz, kuschelte mich in meine Jacke, knabberte an meiner Käsestulle und lauschte den schrillen Unterhaltungen der anderen oder stellte mich schlafend.
Die Zugfahrt dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Nach zehn Stunden kamen wir irgendwo in der Pampa an. Es folgte eine endlose Busfahrt und eine ebenso endlose Wanderung zum Ferienobjekt, weitab jeglicher Zivilisation, wie mir schien, mitten im Thüringer Wald. Dort erwartete uns ein Betongebäude mit großer Halle. Hier würden wir die kommenden drei Wochen verbringen. Von der Halle gingen die Schlaf- und Waschräume auf zwei Etagen ab. Wir wurden in Gruppen eingeteilt. In unserem Schlafraum standen sechs Doppelstockbetten für zwölf Mädchen und Jungen. Ich versuchte tapfer zu sein.
Die Waschräume waren kühl. Warmes Wasser gab es nicht, also duschte ich eher selten. Einmal wusch ich mir die Haare und der Schaum blieb kleben. Daraufhin verschenkte ich meine gelben Shampookissen und stieg auf Katzenwäsche um. Ich hatte die Nase voll.
Das Essen war reichlich und übertraf die gewohnte Schulspeisung. Morgens gab es Dreifruchtmarmelade auf Mischbrot, am Wochenende Brötchen. Am Nachmittag Kuchen und zum Abend Wurst und Käse, Tomaten und Gurken als Beilagen. Mittags freuten wir uns auf Milchreis, Senf­ei oder Hühnerfrikassee mit Krautsalat. Zu Trinken gab es Pfefferminztee, der gezuckert in riesigen Aluminium-Kannen für den ganzen Tag bereit stand. Für die gute Verpflegung des Lagers sorgte die Deutsche Seerederei, der Betrieb meines Vaters. Der Lagerleiter musste nur mit seinem Lagerleiterausweis schwenken und der Großhandel bediente ihn bevorzugt. Staatliche Anweisung.
Für Tagesausflüge hatte ich eine Aluminium-Brotdose und eine hellgrüne Trinkflasche aus Plaste mitgebracht, die nach jahrelangem Gebrauch braun angelaufen war und den Teegeruch nicht mehr loswurde. An Wandertagen erhielten wir Verpflegungsbeutel mit Wurstbroten, hart gekochten Eiern und Schmelzkäse, den wir aus der Verpackung lutschten. Vom mitgeschickten Taschengeld kauften wir uns Eis und Bockwürste. Ich kaufte Mitbringsel für meine Geschwister. Ich vermisste sie plötzlich sehr.
Der Ferienlageralltag war straff durchorganisiert. Von morgens bis abends wurden wir beschäftigt, damit wir abends gut schliefen. Auf dem Plan standen Ausflüge in benachbarte Städte, Schwimmen im nahe gelegenen Waldsee und Tageswanderungen, bei denen wir aus voller Brust Wanderlieder schmetterten wie: „Dass wir aus Rostock sind, das weiß ein jedes Kind. Wir reißen Bäume aus, wo keine sind. Ja, das stimmt.“
Abends saßen wir erschöpft am Lagerfeuer und sangen zu Gitarrenklängen das „Lied vom kleinen Trompeter“ und „Sag mir, wo die Blumen sind“. Lagerfeuerromantik pur. Manchmal wurden abends Filme gezeigt. Ein alter Vorführapparat wurde dann in einem Gruppenraum aufgestellt, wir hockten auf dem Fußboden, reckten unsere Hälse und lachten über die „Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten“. Dabei störte es nicht, dass der Film in schwarz-weiß und vom Klassenfeind war. Die großen Mädchen bevorzugten Disko. Dann räumten Kinder und Erzieher Tische und Stühle in der Halle beiseite, schleppten einen Kassettenrekorder hinein und die Kleinen beobachteten die Großen beim Tanzen. Um zehn Uhr war Nachtruhe.
Ausschlafen gab es auch in den Ferien nicht. Das war etwas für bürgerliche Waschlappen, nicht aber für sozialistische Frohnaturen, befand die zentral-staatlich geschulte Lagerleitung. Morgens weckte uns die Lagerklingel euphorisch zum Frühsport. Gähnend krochen wir aus den Betten, zogen lustlos unser Sportzeug an und trotteten zum Sportplatz. Vor dem Früh­stück machten wir müde Kniebeugen, Hockstrecksprünge und Rumpfheben. „Und zum Schluss eine Runde durch den Wald“, pfiff Gruppenleiterin Silvia. Hatten die Gruppenleiter am Vorabend gefeiert, fiel der Frühsport aus und wir atmeten auf. Gewissenhafte Erzieher nominierten indes einen Vertreter aus unseren Reihen zum Vorturner. Das Sport-Ass übernahm die Führungsaufgaben, wollte glänzen und scheuchte uns umso konsequenter.
Am dritten Tag organisierte der eigens für die Pflege des Sports berufene Sportfunktionär das Sportfest. Dies war ein Höhepunkt in jedem Ferienlager. Für mich ein Tiefpunkt. Weder Wettlaufen noch Tauziehen lösten Jubelgefühle in mir aus. Ich gehörte nicht zu den Sportskanonen und mein Mannschaftsgeist war diesbezüglich unterentwickelt. Am liebsten hätte ich mich krank gemeldet. Und prompt, wie auf Bestellung, bekam ich Bauchschmerzen und wurde vom Wettstreit befreit.
Ein weiterer obligatorischer Höhepunkt war das Neptunfest, das von der Lagerleitung geschickt als Disziplinarmaßnahme eingesetzt wurde. Aufsässige Jungs und vorlaute Mädchen konnten für ihr Benehmen vom Meeresgott höchstpersönlich zur Räson gebracht werden. Während wir Kinder gespannt am Ufer warteten, kam ein dicker Neptun mit Badehose und grünen Krepppapieralgen mitsamt Gefolge im Ruderboot über den See geschippert. Seine Häscher pirschten sich von allen Seiten an. Mit den Kleinen hatten sie leichtes Spiel. Die Großen aber hatten sich ausgeklügelte Fluchtpläne zurechtgelegt. So dauerte es schon mal eine Viertelstunde, bis die Häscher stöhnend und außer Atem den widerspenstig zappelnden Täufling an Händen und Füßen herbeischleppten. Dieser wurde mit Rasierschaum eingeseift, mit stinkender Senf-Essig-Pampe gefüttert und ins brackige Wasser geworfen. Ich beobachtete das Treiben aus sicherer Entfernung und hoffte inständig, nicht auf Neptuns Liste zu stehen.
Neben sportlichen und kulturellen Aktivitäten legte der Staat, der seine gebieterische Hand über unsere Ferienlagergestaltung hielt, großen Wert auf gesellschaftliche und wehrpolitische Erziehung. Wir machten Geländeübungen und waren an einem Tag „Gruppe vom Dienst“, was mir durchaus berichtenswert erschien. „Wenn wir Gruppe vom Dienst sind“, schrieb ich nach Hause, „dürfen wir das Lager nicht verlassen. Und zwei Kinder müssen Wache am Lagertor halten.“ Wir saßen im Wachhäuschen und protokollierten alle Ein- und Ausgänge in einem Lagerbuch. Einmal fehlten zwei Kinder bei der abendlichen Kontrolle des Buches. Schlagartig war das Lager in helle Aufregung versetzt. Suchtrupps wurden geformt, Telefonate geführt, Kinder befragt. Schließlich fand man die zwei seelenruhig in ihren Betten. Sie hatten lediglich vergessen, sich nach dem Tagesausflug wieder persönlich im Buch einzutragen.
Ich fand im Ferienlager wenig Gleichgesinnte. Die meisten Kinder (1984 fuhren zwei Millionen Kinder in fünftausend Betriebsferienlager) vergnügten sich königlich bei Morgenappellen und Wettbewerben um das sauberste Zimmer. Ich hatte Heimweh und konnte nicht ertragen, dass uns ein diktatorischer Neptun erziehen wollte und uns Beschäftigungen zwangsverordnet wurden. Bei dem Programm blieb wenig Zeit für individuelle Interessen wie Lesen oder Malen. (Computerspiele gab es noch nicht.) Es existierten auch keine Spielsachen, von Sportgeräten wie Bällen, Tischtennis- und Federballschlägern einmal abgesehen. Lediglich zum Briefe schreiben wurde uns regelmäßig Zeit eingeräumt, denn die Eltern sollten erfahren, wie gut es ihren Kindern ging. Ich wartete sehnsüchtig auf den Tag der Heimreise und schrieb am 7. Juli 1981 an meine Eltern: „Wenn ich nach Hause komme, werde ich Euch versprechen, dass ich Euch helfen will und viel Klavier üben möchte.“ Im Brief stellte ich außerdem klar: „Ich fahre nächstes Jahr nicht mehr ins Ferienlager. Auch übernächstes Jahr nicht.“
Zwei Jahre später überredeten mich meine Eltern, der sozialistisch organisierten Feriengestaltung erneut eine Chance zu geben. Ich war jetzt elf und selbstbewusster. Wenig über­zeugt fuhr ich nach Hohndorf ins Erzgebirge. Die Unterbringung war demoralisierend. Das Ferienobjekt des VEB Esda „Walderholung“ zeichnete sich durch schmutzige Baracken mit dunklen Schränken, löchrigen Wänden und wackligen Doppelstockbetten aus. Zu den übel riechenden Plumpsklos hinter dem spärlich beleuchteten Sportlatz gingen wir nur in Grüppchen. Abends versuchten wir uns den Gang zu verkneifen, was selten klappte.
Kurz nach der Ankunft der zweite Schock: Ich hatte meinen Kofferschlüssel zu Hause vergessen. Während die anderen Mädchen ihre Koffer auspackten, stand ich bekümmert im Raum und war den Tränen nahe. Meine Erzieherin nahm entschlossen die Schere zur Hand. Überhaupt: Nichts lief nach Plan. Meine Mutter hatte die falsche Zahnpasta eingepackt. „Warum hast Du mir eigentlich Putzi eingesteckt? Du weißt doch, dass ich damit nicht putze“, schrieb ich vorwurfsvoll nach Hause. Das Wetter war schlecht, es regnete, die Baracken waren kalt. Frierend heulte ich mich nachts in den Schlaf.  
Ich hatte Heimweh und Bauchschmerzen. Meinen Eltern schrieb ich herzzerreißende Briefe: „Liebe Mami, hole mich doch bitte, bitte schnellstens ab von hier.“ Im Nachhinein tun mir meine Eltern leid. Sie fühlten sich sicher schlecht. Ungefähr so, wie ich mich morgens fühle, wenn ich meinen Sohn weinend im Kindergarten abgebe. Ich habe einen dicken Klumpen im Bauch und rede mir ein: „Er beruhigt sich wieder, ihm wird es schon gefallen. Und wenn es gar nicht geht, hole ich ihn einfach ab.“ Von Abholen konnte ich damals nur träumen. Mein Vater war auf See, meine Mutter arbeitete, eine Freistellung gab es nicht und ich war am anderen Ende der Republik. Die durchquerte man nicht einfach mal so mit dem Lada.
Fünf Tage nach Ankunft wurde ich so krank, dass man mich auf die Krankenstation schickte. Dort verbrachte ich den Rest der drei Wochen. Und hatte endlich Ferien. Kein Frühsport, keine Sportfeste, keine Neptuntaufen. Dafür Ausschlafen, stundenlanges Lesen, Malen, Träumen und Quatschen mit meinen zwei Bettnachbarinnen. Kinder besuchten mich und erzählten von Geländeübungen und Probealarm mit Rauchbomben bei Regen und Gewitter. Ich hatte nicht das Gefühl, etwas zu verpassen. Schwester Gisela versorgte uns liebevoll mit Milchreis, frischen Früchten und Pfefferminztee. Meinen Eltern berichtete ich erleichtert: „Hier vergeht die Zeit viel schneller, denn wir drei Mädchen lesen uns immer gegenseitig etwas vor.“
Im folgenden Jahr entging ich dieser „wichtigen jugendpolitischen Maßnahme“. Es sollte aber nicht mein letzter Ferienlagerbesuch sein und auch ich würde das Ferienlager als „schönsten Ort im Sozialismus“ schätzen lernen. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Sonntag, 5. Mai 2013

Sammlerleidenschaft


Kennen Sie das afrikanische Märchen von der alten Schildkröte, die alles sammelte, was sie fand? Gummibälle, Schnürsenkel, kaputte Regenschirme und andere ausgediente, ihr nützlich scheinende Gebrauchsgegenstände schleppte sie nach Hause, obgleich sie für keines dieser Objekte eine Verwendung hatte. Nacheinander jedoch besuchten die Tiere der Savanne die Schildkröte und benötigten just einen dieser wunderbaren Schätze, die ihnen die weise Sammlerin gönnerhaft überließ.
 
Nach dieser Geschichte könnte man meinen, wir lebten in der DDR wie im Märchen. Wir sammelten alles, was wir fanden, und konnten alles gebrauchen, denn die Dinge schienen stets schön und letztendlich meist auch nützlich. Wir sammelten, weil es uns gefiel, weil es gerade zu haben war, oder weil es sogar wertvoll war, wobei sich der Wert einer Sache nicht zwangsläufig über den Preis definierte. Wir sammelten, weil wir es jetzt oder eventuell später einmal gebrauchen konnten oder um es zu verschenken, zu verscherbeln oder einzutauschen. Wir sammelten mit Voraussicht und Ausdauer, ähnlich wie die Schildkröte. In der DDR entwickelte der Durchschnittsbürger eine Sammlerleidenschaft für die unglaublichsten Dinge.
 
Meine Mutter sammelte Geschenke: Geburtstagsgeschenke, Weihnachtsgeschenke, Ostergeschenke und Geschenke zu besonderen Anlässen. Wann immer sie ein gutes Buch, erzgebirgische Holzschnitzfiguren, Pappostereier, eine hübsche Kristallvase oder irgend etwas anderes Ansprechendes im Kaufhaus ergatterte, kaufte sie diesen Schatz und verwahrte ihn in einem großen Kleiderschrank im Kinderzimmer. Der war für uns Knirpse tabu. Mit Kleidung verhielt es sich ähnlich. Meine vorausschauende Mutter kaufte Pullover, Strumpfhosen, Kniestrümpfe und Unterwäsche, wenn es sie gab und legte sie für entsprechende Feiertage zurück. In Anbetracht der permanenten Knappheit von Konsumgütern jeglicher Art in der DDR war dieses Hamsterprinzip von unbedingtem Vorteil, wollte man nicht jedes Jahr die gleiche Pressglasvase verschenken. Unsere Gabentische jedenfalls fielen stets reichlich aus und waren voller Überraschungen, denn wir hielten uns größtenteils an das Schranktabu. Meist passte uns auch die vor einem dreiviertel Jahr gekaufte Unterwäsche noch.
 
Mein Vater und mein Opa hatten eine Sammlerleidenschaft für Baustoffe entwickelt. Drei Säcke Zement, einen Kubikmeter Holz, vier Quadratmeter gelbe Fliesen – Baustoffe wurden gekauft, wenn es sie gab, unabhängig davon, ob gerade das Bad neu gefliest werden sollte oder nicht. Innerhalb der kommenden zehn Jahre würde es schon nötig sein, das Bad neu zu fliesen. Und was man hat, das hat man. In Garage, Werkstatt und diversen Holzschuppen bei uns zu Hause stapelten sich alsbald Verbundbretter, Farben, Sauerkrautplatten und was man(n) sonst noch so zum Bauen gebrauchen konnte.
 
Mein Vater sammelte grundsätzlich auch alle Dinge, die bei den permanenten Umbaumaßnahmen unseres Hauses ausgemustert wurden und schaffte sie auf den Dachboden meiner Oma. Irgendwann würden sie sicher wieder zum Einsatz kommen. Unter dem Dach türmten sich sodann alte Fenster, die sich hervorragend für den Bau von Frühbeeten eigneten, ausrangierte Lampen, Waschbecken, Tische, Kinderwagen und Toilettendeckel. Die gelben Fliesen, die mein Opa seinerzeit über Beziehungen besorgt hatte, liegen noch heute ungeöffnet in Kartons. Vielleicht werde ich sie auf Ebay versteigern, zusammen mit den sechs Keramikwaschbecken und den rund einhundert Rollen Mustertapete, original aus den 70ern.
 
Wir Kinder taten es meinem Vater gleich. Im Laufe der Jahre begannen wir, unser ausgedientes, aber größtenteils gut erhaltenes Spielzeug auf Omas Dachboden zu schleppen. Abgegriffene Brettspiele, Puzzles und Zauberkästen, Roll- und Schlittschuhe, Puppenstuben, Puppenwagen, Kaufmannsläden, Bauernhöfe, Indianer- und Cowboy-Figuren samt Fort, Eisenbahnplatten, Schaukelpferde, ferngesteuerte Autos und Segelschiffe wurden unter dem Spitzdach eingelagert. Sogar Kinderschaukeln, Hüpfbälle, ein metergroßer weißer Teddybär, säuberlich gegen Staub in einer Mülltüte verpackt, und Bücher, gebündelt in Kisten, Kartons und alten Koffern, wo sich im Laufe der Jahre ihre Seiten wellten. Zum Wegwerfen waren die Sachen einfach zu schade und Ebay gab es damals noch nicht. Diverse Sammlungen und Einrichtungsgegenstände, für die unsere Kinderzimmer zu klein wurden, gesellten sich alsbald hinzu.
 
Bei unserem Umzug vor einem Jahr stöberte ich auf der Suche nach passablen Möbelstücken auch durch die auf Omas Dachboden deponierten Kindheitserinnerungen und fand sie nach Jahrzehnten wieder: meine Kaugummibilder-, Schokoladenpapier- und Serviettensammlungen. Letztere hatte aufgrund feuchter Winter etwas gelitten. Was hatten wir Kinder damals nicht alles gesammelt! Alles, was bunt und fröhlich aussah und in der DDR schwer oder gar nicht zu bekommen war. Alles von Autonummernschildern über Bierdeckel bis hin zu Zinnsoldaten und Zuckerstückchen – letztere gab es einzeln eingepackt nur in den Interhotels.
 
Besonders beliebt waren Kaugummibilder, die in den 80er Jahren als Zugabe den Kaugummipackungen aus dem Westen beilagen. In der Hofpause tauschten tüchtige Sammler mit Westbeziehungen Kaugummipapiere mit Motiven von Donald Duck und Micky Maus gegen Bubble-Gum-Bildergeschichten von Fix und Foxi und dem rosaroten Panther. Von Mamba gab es Kaugummibilder mit Geschichten von „Schleck“, einem pinkfarbenen Bären, und Punkten für den Eintritt in den so genannten „Schleck-Club“ mit „offiziellem Club-Ausweis in Schleck-Geheimschrift“. Welche weiteren Vorteile damit verbunden waren, entzog sich meiner Kenntnis. Sie spielten aber auch keine Rolle, denn der Beitritt war für mich trotz vollständiger Sammelpunktzahlnicht möglich, denn der Club war schließlich im Westen.
 
Ostdeutsche Kaugummibilder waren eine Rarität. Nicht nur, weil die echten Kaugummikauer den einzigen Ost-Kaugummi Jamboree verschmähten, denn er schmeckte grisselig und war praktisch ungenießbar, sondern vor allem, weil es keine Kaugummibilderbeilagen gab. Nur für einen in Lizenz hergestellten Kaugummi der Westmarke Babaloo zeichnete der Hallenser Jürgen Günther fünfzig Comicstrips von „Otto und Alwin“. Wir kannten und liebten den grasgrünen Gorilla und seinen kleinen Pinguin aus der Kinderzeitschrift FRÖSI (Fröhlich sein und singen) und mussten dem Zentralrat der FDJ dankbar sein, dass der auf einem einheimischen Künstler für die Kaugummibilder bestanden hatte.
 
Meine Schokoladenpapiersammlung umfasste 516 (fünfhundertundsechzehn!) verschiedene Einwickelpapiere, von Arco bis Waldbaur alphabetisch sortiert. Neben über einhundert westdeutschen Marken kamen einzelne Papiere sogar aus Holland, Österreich und der Schweiz. Schokoladenkreationen wie zart schmelzende Alpenmilch, knuspriges Blätterkrokant, exotische Aprikose, frische Pfefferminzcreme, fruchtige Kirsch-Sahne-Trüffel oder lockere Luftschokolade stellten ungewöhnliche Erfahrungen für unsere an gewöhnliche Vollmilch gewöhnten Gaumen dar. Wenn man kalkuliert, dass die meisten Verwandten zu Weihnachten zehn und mehr Tafeln der gleichen Sorte schickten, dann blühte die Schokoladenherstellung im Westen vornehmlich durch den Verbrauch im Osten.
 
Meine ostdeutschen Schokoladenpapiere ließen sich an einer Hand abzählen. Beliebt, weil mit 80 Pfennig günstig, aber im Geschmack schmierig und wenig schokoladig, war die „Schlager Süßtafel“. Weitaus besser schmeckten die kleinen Vollmilch-Täfelchen für 70 Pfennig von Zetti mit Motiven von Herrn Fuchs und Frau Elster und die gefüllte Knuspertafel, die immerhin 1,50 Mark kostete. Gut und günstig, aber nicht für jedermann zu haben, war die Vollmilch-Schokolade aus dem VEB Thüringer Schokoladenwerk Saalfeld, die als „preisgünstige Transitware nur zum Verbrauch auf hoher See bestimmt“ war und die uns mein Vater manchmal von Bord mitbrachte.
 
Raritäten meiner Sammlung waren russische Schokoladenpapiere wie Шоколад Ϲпорт (Schokolade Sport) und Романс (Romanze), laut Einwickelpapier hergestellt im „mehrfach als vorbildlicher sozialistischer Betrieb ausgezeichneten Kombinat Красный Октябрь (Roter Oktober) in Moskau“, oder die gewöhnliche Vollmilchschokolade „Ungewöhnlich“ aus dem Moskauer Konditoreikombinat Rot Front, für zwei Rubel und zwanzig Kopeken. Das Schokoladenpapierdesign war entsprechend „ungewöhnlich“. Während uns allein beim Anblick der hochglänzenden Nüsse, Trauben und Kaffeebohnen auf westlichen Schokoladenpapieren das Wasser im Mund zusammen lief, schienen sowjetische Hersteller nicht den deliziösen Inhalt, sondern andere Vorzüge in den Vordergrund zu stellen. Nicht sinnliches Verlangen nach delikater Süßigkeit, sondern sozialistisch-moralische Werte und die richtige Gesinnung beim Verzehr der Schokolade standen im Vordergrund der Werbebotschaft. Dem hehren Ziel der Erziehung zum guten sozialistischen Bürger unterlag offensichtlich auch die Schokoladeneinwickelpapierindustrie. So ziert die Schokolade „Aurora“ ein Bild des gleichnamigen Panzerkreuzers und die Schokolade „Kiew 1500“ ein heroisches Reiterdenkmal. Ich freute mich trotzdem, wenn ich die Papiere von meinen sowjetischen Brieffreundinnen geschickt bekam und reihte sie in meine Sammlung ein.
 
Meine Serviettensammlung umfasste eine ähnlich große Menge an Papierservietten, von einfarbigen Alltags- über bunte Festtagsservietten mit Osterhasen, Maikäfern, Weihnachtsengeln und Trauringen bis zu hauchdünnen Servietten mit getuschten Landschaften. Meine Oma hatte diese Sammlung vor Jahren begonnen und mir vererbt und ich hegte und pflegte sie und war zutiefst empört, als meine jüngere Schwester ebenfalls begann, Servietten zu sammeln, denn fortan mussten wir die begehrten Servietten aus den Westpaketen teilen.
 
Wie viele Kinder in der DDR sammelte ich auch Lack- und Abziehbilder, die ich in hellgrüne Geometriehefte einklebte. Während Lackbilder einfach mit Kleber eingestrichen wurden, war das Aufkleben von Abziehbildern eine Kunst für sich. Man musste zunächst die einzelnen Motive des Blättchens sorgsam ausschneiden und in lauwarmem Wasser einweichen. Dann schob man die hauchdünnen Bildchen vorsichtig vom Papier herunter auf ein Blatt. Waren die Bilder noch nicht ganz abgeweicht, zerrissen sie. Schob man sie zu schnell, wellten sie sich. Vergaß man sie gar im Waschbecken, verstopfte der Abfluss. So hörte man regelmäßig verdrießliche Flüche aus den Badezimmern der Abziehbildsammler. In meinen Schulheften tummelten sich Märchenfiguren, Sandmännchen, Pittiplatsch, Schnatterinchen und Verkehrsschilder. Mit Abziehbildern verzierte man auch Briefkuverts, Ostereier, Zahnputzbecher, Spiegel und Schränke. Ab Mitte der 80 Jahre kamen dann Aufkleber in die Läden und ich wechselte zu den selbstklebenden Bildchen, mit denen ich liebevoll meine Poesie- und Fotoalben verzierte.
 
Eine Weile sammelte ich Anziehpuppen, jene Papierpüppchen, denen man Papierkleider über die Papierkörper mit aufgemalter Unterwäsche stülpt, wobei umgeknickte Papierlaschen die Kleidung fixierten. Ein am Rücken festgeklebter Aufsteller verhalf ihnen zum Stehen. Der Ausschneidebogen kostete 35 Pfennig. Mein erstes Anziehpärchen stammte aus den 70er Jahren und trug Schlaghosen, bestickte Jeansanzüge und Strickponchos auf sonnengebräunter Haut. Ich hatte Anziehpuppen, die neben Schul-, Freizeit- und Abendgarderobe in sowjetischen Trachten, Kostümen im Wandel der Jahrhunderte oder in Arbeitsbekleidung verschiedener Berufe daher kamen. Ute, das Anziehmädchen, war Puppenmutter, Krankenschwester, Verkäuferin, Frisöse und Lehrerin. Uwe war ausstaffiert zum Koch, Lokführer, Clown, Maler und Doktor. Früh übte sich, wer mal was werden wollte. Eine Puppe hatte sogar kämmbare Haare und Augen, die sie öffnen und schließen konnte, je nachdem, wie man sie drehte. Die Mutter eines Urlaubsfreundes aus der Tschechoslowakei hatte sie mir geschickt; in der DDR gab es so ausgefallene Püppchen nicht.
 
Ich hatte auch eine Taschenkalendersammlung, zu der ich eher unbeabsichtigt gekommen war. Meine Brieffreundinnen aus der Sowjetunion schickten mir unermüdlich kleine Kalender, die sie sammeln und tauschen wollten und deren Vorderseiten Fotografien von Heldendenkmälern, rote Sowjetsterne und Stadtansichten aus Moskau, Leningrad und Brijansk, schmückten, mitunter auch Motive russischer Märchen und Zirkusattraktionen wie durch Feuerreifen springende Tiger oder tanzende Bären. Leider konnte ich den wiederholten Bitten meiner Brieffreundinnen nach Tauschobjekten nicht nachkommen, da Taschenkalender zwar in der DDR hergestellt, aber selten mit so attraktiven Motiven versehen wurden.
 
Ich sammelte noch unzählige andere Dinge wie Briefmarken, die ich mit Vater und Geschwistern tauschte, Abzeichen, die ich ebenfalls von meinen russischen Brieffreunden geschickt oder aber selber verliehen bekam, Postkarten mit lustigen Motiven, die ich in ein Kartenalbum steckte, und Ansichtskarten aus fernen Ländern, von denen ich leider nicht allzu viele erhielt, denn wer reiste schon in ferne Länder.
 
Heute habe ich die Anziehpuppen meiner Tochter geschenkt, die aber von Barbie und Polly Pocket ins Abseits gedrängt wurden. Meinen Söhnen vermache ich die Briefmarken, auf das die Sammlung wachse und gedeihe. Mit den Abziehbildern und Aufklebern verzieren wir Fotoalben, und die Schokoladenpapiere und Servietten darben im Keller. Vielleicht kann ich ja die Kaugummibilder bei Ebay einstellen und die ersteigerten Einnahmen in moderne Sammlungen von Computerspielen und elektronischen Gadgets investieren, da hinke ich derzeit hinterher. Es lebe die Sammlerleidenschaft.