Der 10. Juni 1972 war ein Samstag. Die
Sonne lachte am blauen Frühlingshimmel über der Rostocker Altstadt und die Vögel
zwitscherten in der wuchtigen, mit einem dichten rosa Blütenschleier
überzogenen Magnolie vor der altehrwürdigen Frauenklinik. Die Straßenbahn
bimmelte wie zum Gruß vor dem Backsteingebäude und ein sanfter Geruch von
gekochten Kartoffeln und Hefe von der Rostocker Brauerei lag in der Luft.
Astrid
lag mit neun anderen Frauen in Saal Nummer Drei auf der Entbindungsstation. Neun
Frauen in einem Zimmer – das war laut, aber es hatte seine Vorteile. So war auf
jeden Fall eine unter ihnen, mit der Astrid sich gern unterhielt. Durch das gesamte
Zimmer, wenn es sein musste, und in entsprechender Lautstärke, aber angeregt.
Die Neugeborenen bekamen vom Gesprächslärm nichts mit, denn sie standen im Säuglingssaal
am Ende des Ganges. Zu den Stillzeiten brachten rosa gekleidete Schwestern die
zerknautschten Würmchen und die Frauen legten sie an ihre Brüste. Eine rigorose
Stillschwester machte die Runde und half, wenn es mit dem Stillen nicht klappte.
An
diesem 10. Juni meldeten Meteorologen in Madison, USA, den spätesten Frost
aller Zeiten. In Rapid City, Süddakota, lösten Orkane eine Flutwelle aus, bei der
237 Menschen starben. In Washington legte Präsident Richard Nixon dem Senat das
Abrüstungsabkommen SALT I mit der Sowjetunion zur Ratifizierung vor, während
sich am anderen Ende der Stadt, im Hauptquartiert der NASA, Raketentechniker
Wernher von Braun in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedete. Und in New
York City gab Elvis Presley sein erstes Konzert in der Metropole, vor einer
tobenden Menge im ausverkauften Madison Square Garden, und sogar John Lennon
und Bob Dylan zollten dem King begeistert Beifall.
All diese Vorkommnisse
geschahen weit weg von dem weiß getünchten Kreissaal der Frauenklinik in
Rostock und hätten sich ebenso gut auf einem anderen Planeten zutragen können. Denn
selbst wenn sie einen Fernseher in ihrem Saal gehabt hätten, woran damals noch
nicht zu denken war, hätten Astrid und ihre Zimmergenossinnen von den meisten dieser
Ereignisse nichts in den abendlichen Fernsehnachrichten erfahren. Stattdessen
berichtete die „Aktuelle Kamera“, die tägliche Nachrichtensendung um 19.30 Uhr,
vom XI. Bauernkongress in Leipzig und der Planerfüllung in der Landwirtschaft. In
Ausschnitten wurde eine Routineansprache des Staatsratsvorsitzenden Erich
Honecker in der Volkskammer gezeigt. Worum es ging, war unerheblich, wichtig
war der Beifall. Der dauerte drei Minuten und wurde in ganzer Länge und mit Großaufnahmen
lächelnder Abgeordneter gezeigt. Von Amerika war keine Rede. Das war damals
nicht weiter auffällig, denn 1972 pflegte die DDR keine diplomatischen
Beziehungen zu den USA. Kurz und knapp und monoton, aber wie immer grammatikalisch
kompliziert und langatmig, um den Eindruck intelligenter Analyse zu erwecken, berichtete
die Nachrichtensprecherin von der Baader-Meinhof Gruppe, die an jenem Samstag in
der westdeutschen Botschaft in Dublin einen Sprengsatz setzte, aber
glücklicherweise niemanden verletzte. Es war ein Tag wie jeder andere. Keine
besonderen Vorkommnisse, keine besonderen Nachrichten.
Am jenem Samstag, den 10.
Juni 1972, um zwei Uhr nachts, erblickte ich das Licht der Welt. Drei Tage zu früh
und für meine beschäftigte Mutter durchaus überraschend. Sie hatte mich mit
einer Magenverstimmung verwechselt. Doch bei der ersten Schwangerschaft kann
das selbst einer angehenden Ärztin schon mal passieren, auch wenn man sich noch
so umfangreich belesen hatte wie meine umsichtige Mutter.
Am Freitagmorgen krümmte
sich meine Mutter vor Bauchschmerzen. „All das schwere Essen gestern“, dachte
sie, „Mutti hat es wieder mal zu gut mit mir gemeint.“ Am Tag wurde es nicht
besser, und nach dem Abendbrot ging Astrid zur Nachbarin. Die war Ärztin und
konnte sicher helfen, denn mittlerweile kamen die Krämpfe alle fünfzehn
Minuten. „Das ist keine Magenverstimmung“, klärte diese sie auf, „das sind
Wehen.“ Na, da sollte mal einer drauf kommen. Die hätten erst doch in einigen
Tagen einsetzen sollen, so hatten es Ärzte und Hebammen jedenfalls errechnet.
Astrid stöhnte und
jammerte immer lauter. Nach einer halben Stunde wurde es ihrem Bruder, der
gerade die Hecke vor dem Haus stutzte, zu bunt. „Ich rufe jetzt den
Krankenwagen“, sagte er kurzentschlossen. Zielstrebig ging er zum Nachbarn gegenüber,
denn der hatte ein Telefon. Wieso er ein Telefon hatte – ein Privileg, das nur Wenigen
in der DDR vergönnt war –, war
nebensächlich, im Notfall musste eben ein Stasi-Telefon herhalten.
Zur gleichen Zeit im
Madison Square Garden in New York City bereitete sich Elvis auf seinen Auftritt
vor. Eine freundliche Blondine half ihm in seinen himmelblauen Adonis-Samtanzug,
rieb ihm sanft Pomade ins Haar und schminkte seine Augen. Eine eifrige Schwester
half derweil Astrid in ein hellblaues Nachthemd, begleitete sie zu ihrem Bett
und fragte nach dem Befinden. Astrid stöhnte. Elvis betrat die Bühne; die
Massen schrien. Und während der King „Love me tender“ ins Mikrofon hauchte, seine
Hüften rollte und hunderte Fans kreischend in Ohnmacht fielen, stöhnte und
schrie Astrid noch lauter, bewegte ihre Hüften noch schwungvoller und fiel beinahe
selbst vor Schmerz und Anstrengung in Ohnmacht. Nur flüchtig dachte sie an
Klaus, ihren Ehemann, der in diesem Augenblick auf einem Frachter am Nordkap
schipperte.
Dann war es geschafft.
Elvis verließ umjubelt
die Bühne, und ein neuer Erdenbürger betrat die Bühne der Welt. Astrid hatte
ein zierliches, gesundes Mädchen geboren. Das war ich.
Zwei
Tage später lag Astrid noch immer im Klinikbett und kämpfte mit den Tränen. Ihr
Baby wollte nuckeln, aber die Milch kam nicht. Da konnte nur die Stillschwester
helfen. Die aber hatte Urlaub und Astrid blieb nichts anderes übrig als in der
Klinik zu bleiben und zu warten. Warten tat auch Klaus, sehnlich und voller Aufregung
auf den versprochenen Landgang. Mittlerweile war er mit seinem Schiff im
Rostocker Überseehafen eingelaufen, konnte aber nicht von Bord und in einigen Tagen
schon würde er wieder auslaufen und erst in zwei Monaten nach Rostock zurückkehren.
Astrid versuchte Klaus anzurufen, was erst nach Stunden möglich war. Sie hinterließ meinem Vater die Nachricht über meine Geburt, die er tatsächlich 22,5 Stunden später erhielt.
Meine Mutter war eine
Spätgebärende. Meinte zumindest die Hebamme, obwohl sie gerade fünfundzwanzig war. Doch in der DDR bekam die Durchschnittsschwangere ihr erstes Kind mit
spätestens zwanzig. Das Medizinstudium hatte meine Mutter aufgehalten, was aber
auch Vorteile brachte, denn im April hatte das Zentralkomitee der SED, der
Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (der machthabenden Partei in der
DDR), neue sozialpolitische Maßnahmen beschlossen. Ab sofort gab es ein „Begrüßungsgeld“
für jeden neugeborenen DDR-Bürger in Höhe von eintausend Mark. Perfektes Timing
sozusagen; das Geld konnten Astrid und Klaus für ihre erste Wohnungseinrichtung
gut gebrauchen.
Sieben Tage nach meiner
Geburt wurden Mutter und Kind entlassen. Am gleichen Tag brachen in Washington
D.C. Männer ins Watergate-Gebäude ein und wurden festgenommen. Während Nixon
alles tat, um nicht diese Affäre verantworten und aus dem Weißen Haus ausziehen
zu müssen, zog ich in das Kellerzimmer meiner Mutter bei meinen Großeltern ein.
Sie begrüßten mich herzlich. Nur mein Opa konnte sich partout nicht mit meinem
Namen anfreunden und wollte meiner Mutter nur allzu gern das nötige Geld geben,
um ihn ändern zu lassen, möglichst in einen der gängigen Namen in der DDR, die 1972
Daniela, Manuela, Andrea, Sandra, Claudia, Anja und Jana lauteten. Aber Astrid
blieb hart. Es hatte sie viel Mühe und Zeit gekostet, den Namen auf dem
Standesamt durchzusetzen. Einen Monat hatte es gedauert, bis ein Leipziger
Linguist bestätigte, dass es sich bei meinem Vornamen tatsächlich um einen Mädchennamen
französischer Herkunft handelte. Aber die Schutzpatronin der Hauptstadt
Frankreichs, Sainte Geneviève, deren
Namen ich trug, war weit entfernt von den Standesämtern Ostdeutschlands und
deren offiziellen Namensbüchern.
Im August lernte ich
meinen Vater kennen. Er hatte endlich Urlaub. Liebevoll hielt er mich im Arm
und kuschelte ausgiebig mit mir. Während ich ihn und seine Uniform interessiert
betrachtete, schaute die Welt gebannt auf München, Austragungsort der XX.
Olympischen Sommerspiele, und reagierte geschockt auf ein Attentat auf die
israelische Olympiamannschaft. Trotz gescheiterter Geiselbefreiung gingen die
Spiele weiter und „unsere“ DDR-Athleten kehrten mit 20 Gold-, 23 Silber- und 23
Bronzemedaillen heim und mit Platz drei im Gesamt-Medaillenspiegel, nach der Sowjetunion
und den USA. Erich Honecker schüttelte stolz „seinen“ Olympioniken die Hände, allen
voran Hochsprung-Goldmann Wolfgang Nordwig und der fünffachen Medaillengewinnerin
Karin Janz. 1972 war auch das Jahr der Fußballeuropameisterschaft, in dem mit
einem 3:0 Sieg über die Mannschaft der UdSSR in Brüssel das bundesdeutsche Team
Europameister wurde, und wie alle DDR-Bürger hatten auch mein Vater und seine
Mannschaft auf See für die Deutschen mit gefiebert.
Voller Stolz präsentierten
meine Eltern mich meinen Urgroßeltern. Mit zweieinhalb Kilo war ich ein zartes
Kind und meine Uroma bezweifelte ernsthaft, dass aus mir jemals etwas werde.
„Dat isch man so lütt. Ut de wat scho gonix“, meinte sie, was meine Mutter
kränkte. Ich war tatsächlich so klein, dass meine Oma mein erstes Mützchen
selbst nähte, denn so kleine Babykleidung gab es nicht. Aber ich wuchs, wozu
ich viel Zeit hatte, denn 1972 war das längste Jahr des Gregorianischen Kalenders:
als Schaltjahr war es einen Tag und zwei Sekunden länger als üblich.
So bot das Jahr auch viel
Zeit für weltpolitische Ereignisse. 1972 war das Jahr von Apollo 17, dem ersten
Taschenrechner HP-35 und dem Start der Serie Raumschiff Enterprise im westdeutschen Fernsehen. Der deutsche Playboy eroberte die Männerherzen im
Westen und, unter der Hand und mit Beziehungen, auch im Osten, Heinrich Böll erhielt
den Literaturnobelpreis und Charles Chaplin den Ehren-Oscar für seine
Verdienste um die Filmkunst. Es war ein Jahr der Bombenanschläge der RAF und
der Verhaftung von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, ein Jahr der
Flugzeugabstürze über London, Teneriffa, Moskau, Miami, Uruguay
und über Königs-Wusterhausen. Es war ein Jahr der Erdbeben in Iran und
Nicaragua, ein Jahr der Flutwellen und Orkane in den USA und Niedersachsen, und
das Jahr der Entführung einer Lufthansa-Maschine durch arabische Terroristen im
Südjemen, an die die Bundesregierung fünf Millionen US-Dollar Lösegeld zahlte.
1972 war auch ein Jahr der
Abgrenzungen. Die DDR kämpfte noch immer um weltweite Anerkennung, bis am 26.
Mai der Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR unterzeichnet wurde, der
die Unverletzlichkeit der Grenzen, die Anerkennung der
Vier-Mächte-Verantwortung, die Beschränkung der Hoheitsgewalt auf das jeweilige
Staatsgebiet und den Austausch „ständiger Vertreter“ festschrieb. So gestärkt
bezeichnete Honecker die Bundesrepublik prompt als „imperialistisches Ausland“
und legitimierte vier Monate später den Schießbefehl. An der „Staatsgrenze
West“ wurden Schutzstreifen und Sperrzonen festgelegt und die Anwendung der
Schusswaffe durch die DDR-Grenztruppen gemäß den Bestimmungen des Ministeriums
für Nationale Verteidigung für zulässig erklärt. Ende des Jahres kam schließlich
auch die Schweiz nicht mehr umhin, die DDR als eigenständiges Land anzuerkennen.
Ich wuchs und gedieh derweil
prächtig und mein Opa organisierte ein Laufgitter, in dem ich meine ersten
Stehversuche unternahm. Ich zog mich mühsam an den bunten Gitterstäben hoch, betrachtete
neugierig unser Wohnzimmer aus dieser faszinierenden Perspektive und versuchte
angestrengt und ausdauernd, über die Absperrung zu klettern. Während ich die
Grenzen meines Laufgitters irgendwann würde überwinden lernen, würde ich aufwachsen
in dem Bewusstsein, in einem eigenständigen deutschen Staat zu leben, dessen
Grenzen klar definiert und unüberwindbar waren.
Ein wenig Westluft jedoch
wehte über den Äther zu uns herüber. Während das DDR-Fernsehen 1972 erstmals die
Erfolgsshows „Ein Kessel Buntes“ und „Außenseiter, Spitzenreiter“ ausstrahlte und
im Transistorradio auf DT 64 Frank Schöbel den Hit „Gold in deinen Augen“ hauchte,
hörten meine Eltern NDR 2, wo Tony Christie „Is This the Way to Amarillo?“,
Middle of the Road „Sacramento“ und Christian Anders „Es fährt ein Zug nach
Nirgendwo“ sangen. Derweil schlief ich friedlich in meinem Körbchen schlief und
träumte vielleicht von einem Land ohne Grenzen.
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