Sonntag, 2. Juni 2013

Ein Kessel Buntes, Elvis und meine Geburt: Das Jahr 1972

Der 10. Juni 1972 war ein Samstag. Die Sonne lachte am blauen Frühlingshimmel über der Rostocker Altstadt und die Vögel zwitscherten in der wuchtigen, mit einem dichten rosa Blütenschleier überzogenen Magnolie vor der altehrwürdigen Frauenklinik. Die Straßenbahn bimmelte wie zum Gruß vor dem Backsteingebäude und ein sanfter Geruch von gekochten Kartoffeln und Hefe von der Rostocker Brauerei lag in der Luft.
 
Astrid lag mit neun anderen Frauen in Saal Nummer Drei auf der Entbindungsstation. Neun Frauen in einem Zimmer – das war laut, aber es hatte seine Vorteile. So war auf jeden Fall eine unter ihnen, mit der Astrid sich gern unterhielt. Durch das gesamte Zimmer, wenn es sein musste, und in entsprechender Lautstärke, aber angeregt. Die Neugeborenen bekamen vom Gesprächslärm nichts mit, denn sie standen im Säuglingssaal am Ende des Ganges. Zu den Stillzeiten brachten rosa gekleidete Schwestern die zerknautschten Würmchen und die Frauen legten sie an ihre Brüste. Eine rigorose Stillschwester machte die Runde und half, wenn es mit dem Stillen nicht klappte.
 
An diesem 10. Juni meldeten Meteorologen in Madison, USA, den spätesten Frost aller Zeiten. In Rapid City, Süddakota, lösten Orkane eine Flutwelle aus, bei der 237 Menschen starben. In Washington legte Präsident Richard Nixon dem Senat das Abrüstungsabkommen SALT I mit der Sowjetunion zur Ratifizierung vor, während sich am anderen Ende der Stadt, im Hauptquartiert der NASA, Raketentechniker Wernher von Braun in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedete. Und in New York City gab Elvis Presley sein erstes Konzert in der Metropole, vor einer tobenden Menge im ausverkauften Madison Square Garden, und sogar John Lennon und Bob Dylan zollten dem King begeistert Beifall.
 
All diese Vorkommnisse geschahen weit weg von dem weiß getünchten Kreissaal der Frauenklinik in Rostock und hätten sich ebenso gut auf einem anderen Planeten zutragen können. Denn selbst wenn sie einen Fernseher in ihrem Saal gehabt hätten, woran damals noch nicht zu denken war, hätten Astrid und ihre Zimmergenossinnen von den meisten dieser Ereignisse nichts in den abendlichen Fernsehnachrichten erfahren. Stattdessen berichtete die „Aktuelle Kamera“, die tägliche Nachrichtensendung um 19.30 Uhr, vom XI. Bauernkongress in Leipzig und der Planerfüllung in der Landwirtschaft. In Ausschnitten wurde eine Routineansprache des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker in der Volkskammer gezeigt. Worum es ging, war unerheblich, wichtig war der Beifall. Der dauerte drei Minuten und wurde in ganzer Länge und mit Großaufnahmen lächelnder Abgeordneter gezeigt. Von Amerika war keine Rede. Das war damals nicht weiter auffällig, denn 1972 pflegte die DDR keine diplomatischen Beziehungen zu den USA. Kurz und knapp und monoton, aber wie immer grammatikalisch kompliziert und langatmig, um den Eindruck intelligenter Analyse zu erwecken, berichtete die Nachrichtensprecherin von der Baader-Meinhof Gruppe, die an jenem Samstag in der westdeutschen Botschaft in Dublin einen Sprengsatz setzte, aber glücklicherweise niemanden verletzte. Es war ein Tag wie jeder andere. Keine besonderen Vorkommnisse, keine besonderen Nachrichten.
 
Am jenem Samstag, den 10. Juni 1972, um zwei Uhr nachts, erblickte ich das Licht der Welt. Drei Tage zu früh und für meine beschäftigte Mutter durchaus überraschend. Sie hatte mich mit einer Magenverstimmung verwechselt. Doch bei der ersten Schwangerschaft kann das selbst einer angehenden Ärztin schon mal passieren, auch wenn man sich noch so umfangreich belesen hatte wie meine umsichtige Mutter.
 
Am Freitagmorgen krümmte sich meine Mutter vor Bauchschmerzen. „All das schwere Essen gestern“, dachte sie, „Mutti hat es wieder mal zu gut mit mir gemeint.“ Am Tag wurde es nicht besser, und nach dem Abendbrot ging Astrid zur Nachbarin. Die war Ärztin und konnte sicher helfen, denn mittlerweile kamen die Krämpfe alle fünfzehn Minuten. „Das ist keine Magenverstimmung“, klärte diese sie auf, „das sind Wehen.“ Na, da sollte mal einer drauf kommen. Die hätten erst doch in einigen Tagen einsetzen sollen, so hatten es Ärzte und Hebammen jedenfalls errechnet.
 
Astrid stöhnte und jammerte immer lauter. Nach einer halben Stunde wurde es ihrem Bruder, der gerade die Hecke vor dem Haus stutzte, zu bunt. „Ich rufe jetzt den Krankenwagen“, sagte er kurzentschlossen. Zielstrebig ging er zum Nachbarn gegenüber, denn der hatte ein Telefon. Wieso er ein Telefon hatte – ein Privileg, das nur Wenigen in der DDR vergönnt war –,  war nebensächlich, im Notfall musste eben ein Stasi-Telefon herhalten.
 
Zur gleichen Zeit im Madison Square Garden in New York City bereitete sich Elvis auf seinen Auftritt vor. Eine freundliche Blondine half ihm in seinen himmelblauen Adonis-Samtanzug, rieb ihm sanft Pomade ins Haar und schminkte seine Augen. Eine eifrige Schwester half derweil Astrid in ein hellblaues Nachthemd, begleitete sie zu ihrem Bett und fragte nach dem Befinden. Astrid stöhnte. Elvis betrat die Bühne; die Massen schrien. Und während der King „Love me tender“ ins Mikrofon hauchte, seine Hüften rollte und hunderte Fans kreischend in Ohnmacht fielen, stöhnte und schrie Astrid noch lauter, bewegte ihre Hüften noch schwungvoller und fiel beinahe selbst vor Schmerz und Anstrengung in Ohnmacht. Nur flüchtig dachte sie an Klaus, ihren Ehemann, der in diesem Augenblick auf einem Frachter am Nordkap schipperte.
 
Dann war es geschafft.
 
Elvis verließ umjubelt die Bühne, und ein neuer Erdenbürger betrat die Bühne der Welt. Astrid hatte ein zierliches, gesundes Mädchen geboren. Das war ich.
 
Zwei Tage später lag Astrid noch immer im Klinikbett und kämpfte mit den Tränen. Ihr Baby wollte nuckeln, aber die Milch kam nicht. Da konnte nur die Stillschwester helfen. Die aber hatte Urlaub und Astrid blieb nichts anderes übrig als in der Klinik zu bleiben und zu warten. Warten tat auch Klaus, sehnlich und voller Aufregung auf den versprochenen Landgang. Mittlerweile war er mit seinem Schiff im Rostocker Überseehafen eingelaufen, konnte aber nicht von Bord und in einigen Tagen schon würde er wieder auslaufen und erst in zwei Monaten nach Rostock zurückkehren. Astrid versuchte Klaus anzurufen, was erst nach Stunden möglich war. Sie hinterließ meinem Vater die Nachricht über meine Geburt, die er tatsächlich 22,5 Stunden später erhielt.
 
Meine Mutter war eine Spätgebärende. Meinte zumindest die Hebamme, obwohl sie gerade fünfundzwanzig war. Doch in der DDR bekam die Durchschnittsschwangere ihr erstes Kind mit spätestens zwanzig. Das Medizinstudium hatte meine Mutter aufgehalten, was aber auch Vorteile brachte, denn im April hatte das Zentralkomitee der SED, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (der machthabenden Partei in der DDR), neue sozialpolitische Maßnahmen beschlossen. Ab sofort gab es ein „Begrüßungsgeld“ für jeden neugeborenen DDR-Bürger in Höhe von eintausend Mark. Perfektes Timing sozusagen; das Geld konnten Astrid und Klaus für ihre erste Wohnungseinrichtung gut gebrauchen.
 
Sieben Tage nach meiner Geburt wurden Mutter und Kind entlassen. Am gleichen Tag brachen in Washington D.C. Männer ins Watergate-Gebäude ein und wurden festgenommen. Während Nixon alles tat, um nicht diese Affäre verantworten und aus dem Weißen Haus ausziehen zu müssen, zog ich in das Kellerzimmer meiner Mutter bei meinen Großeltern ein. Sie begrüßten mich herzlich. Nur mein Opa konnte sich partout nicht mit meinem Namen anfreunden und wollte meiner Mutter nur allzu gern das nötige Geld geben, um ihn ändern zu lassen, möglichst in einen der gängigen Namen in der DDR, die 1972 Daniela, Manuela, Andrea, Sandra, Claudia, Anja und Jana lauteten. Aber Astrid blieb hart. Es hatte sie viel Mühe und Zeit gekostet, den Namen auf dem Standesamt durchzusetzen. Einen Monat hatte es gedauert, bis ein Leipziger Linguist bestätigte, dass es sich bei meinem Vornamen tatsächlich um einen Mädchennamen französischer Herkunft handelte. Aber die Schutzpatronin der Hauptstadt Frankreichs, Sainte Geneviève, deren Namen ich trug, war weit entfernt von den Standesämtern Ostdeutschlands und deren offiziellen Namensbüchern.
 
Im August lernte ich meinen Vater kennen. Er hatte endlich Urlaub. Liebevoll hielt er mich im Arm und kuschelte ausgiebig mit mir. Während ich ihn und seine Uniform interessiert betrachtete, schaute die Welt gebannt auf München, Austragungsort der XX. Olympischen Sommerspiele, und reagierte geschockt auf ein Attentat auf die israelische Olympiamannschaft. Trotz gescheiterter Geiselbefreiung gingen die Spiele weiter und „unsere“ DDR-Athleten kehrten mit 20 Gold-, 23 Silber- und 23 Bronzemedaillen heim und mit Platz drei im Gesamt-Medaillenspiegel, nach der Sowjetunion und den USA. Erich Honecker schüttelte stolz „seinen“ Olympioniken die Hände, allen voran Hochsprung-Goldmann Wolfgang Nordwig und der fünffachen Medaillengewinnerin Karin Janz. 1972 war auch das Jahr der Fußballeuropameisterschaft, in dem mit einem 3:0 Sieg über die Mannschaft der UdSSR in Brüssel das bundesdeutsche Team Europameister wurde, und wie alle DDR-Bürger hatten auch mein Vater und seine Mannschaft auf See für die Deutschen mit gefiebert.
 
Voller Stolz präsentierten meine Eltern mich meinen Urgroßeltern. Mit zweieinhalb Kilo war ich ein zartes Kind und meine Uroma bezweifelte ernsthaft, dass aus mir jemals etwas werde. „Dat isch man so lütt. Ut de wat scho gonix“, meinte sie, was meine Mutter kränkte. Ich war tatsächlich so klein, dass meine Oma mein erstes Mützchen selbst nähte, denn so kleine Babykleidung gab es nicht. Aber ich wuchs, wozu ich viel Zeit hatte, denn 1972 war das längste Jahr des Gregorianischen Kalenders: als Schaltjahr war es einen Tag und zwei Sekunden länger als üblich.
 
So bot das Jahr auch viel Zeit für weltpolitische Ereignisse. 1972 war das Jahr von Apollo 17, dem ersten Taschenrechner HP-35 und dem Start der Serie Raumschiff Enterprise im westdeutschen Fernsehen. Der deutsche Playboy eroberte die Männerherzen im Westen und, unter der Hand und mit Beziehungen, auch im Osten, Heinrich Böll erhielt den Literaturnobelpreis und Charles Chaplin den Ehren-Oscar für seine Verdienste um die Filmkunst. Es war ein Jahr der Bombenanschläge der RAF und der Verhaftung von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, ein Jahr der Flugzeugabstürze über London, Teneriffa, Moskau, Miami, Uruguay und über Königs-Wusterhausen. Es war ein Jahr der Erdbeben in Iran und Nicaragua, ein Jahr der Flutwellen und Orkane in den USA und Niedersachsen, und das Jahr der Entführung einer Lufthansa-Maschine durch arabische Terroristen im Südjemen, an die die Bundesregierung fünf Millionen US-Dollar Lösegeld zahlte.
 
1972 war auch ein Jahr der Abgrenzungen. Die DDR kämpfte noch immer um weltweite Anerkennung, bis am 26. Mai der Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR unterzeichnet wurde, der die Unverletzlichkeit der Grenzen, die Anerkennung der Vier-Mächte-Verantwortung, die Beschränkung der Hoheitsgewalt auf das jeweilige Staatsgebiet und den Austausch „ständiger Vertreter“ festschrieb. So gestärkt bezeichnete Honecker die Bundesrepublik prompt als „imperialistisches Ausland“ und legitimierte vier Monate später den Schießbefehl. An der „Staatsgrenze West“ wurden Schutzstreifen und Sperrzonen festgelegt und die Anwendung der Schusswaffe durch die DDR-Grenztruppen gemäß den Bestimmungen des Ministeriums für Nationale Verteidigung für zulässig erklärt. Ende des Jahres kam schließlich auch die Schweiz nicht mehr umhin, die DDR als eigenständiges Land anzuerkennen.
 
Ich wuchs und gedieh derweil prächtig und mein Opa organisierte ein Laufgitter, in dem ich meine ersten Stehversuche unternahm. Ich zog mich mühsam an den bunten Gitterstäben hoch, betrachtete neugierig unser Wohnzimmer aus dieser faszinierenden Perspektive und versuchte angestrengt und ausdauernd, über die Absperrung zu klettern. Während ich die Grenzen meines Laufgitters irgendwann würde überwinden lernen, würde ich aufwachsen in dem Bewusstsein, in einem eigenständigen deutschen Staat zu leben, dessen Grenzen klar definiert und unüberwindbar waren.
 
Ein wenig Westluft jedoch wehte über den Äther zu uns herüber. Während das DDR-Fernsehen 1972 erstmals die Erfolgsshows „Ein Kessel Buntes“ und „Außenseiter, Spitzenreiter“ ausstrahlte und im Transistorradio auf DT 64 Frank Schöbel den Hit „Gold in deinen Augen“ hauchte, hörten meine Eltern NDR 2, wo Tony Christie „Is This the Way to Amarillo?“, Middle of the Road „Sacramento“ und Christian Anders „Es fährt ein Zug nach Nirgendwo“ sangen. Derweil schlief ich friedlich in meinem Körbchen schlief und träumte vielleicht von einem Land ohne Grenzen.

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