Sonntag, 5. Mai 2013

Sammlerleidenschaft


Kennen Sie das afrikanische Märchen von der alten Schildkröte, die alles sammelte, was sie fand? Gummibälle, Schnürsenkel, kaputte Regenschirme und andere ausgediente, ihr nützlich scheinende Gebrauchsgegenstände schleppte sie nach Hause, obgleich sie für keines dieser Objekte eine Verwendung hatte. Nacheinander jedoch besuchten die Tiere der Savanne die Schildkröte und benötigten just einen dieser wunderbaren Schätze, die ihnen die weise Sammlerin gönnerhaft überließ.
 
Nach dieser Geschichte könnte man meinen, wir lebten in der DDR wie im Märchen. Wir sammelten alles, was wir fanden, und konnten alles gebrauchen, denn die Dinge schienen stets schön und letztendlich meist auch nützlich. Wir sammelten, weil es uns gefiel, weil es gerade zu haben war, oder weil es sogar wertvoll war, wobei sich der Wert einer Sache nicht zwangsläufig über den Preis definierte. Wir sammelten, weil wir es jetzt oder eventuell später einmal gebrauchen konnten oder um es zu verschenken, zu verscherbeln oder einzutauschen. Wir sammelten mit Voraussicht und Ausdauer, ähnlich wie die Schildkröte. In der DDR entwickelte der Durchschnittsbürger eine Sammlerleidenschaft für die unglaublichsten Dinge.
 
Meine Mutter sammelte Geschenke: Geburtstagsgeschenke, Weihnachtsgeschenke, Ostergeschenke und Geschenke zu besonderen Anlässen. Wann immer sie ein gutes Buch, erzgebirgische Holzschnitzfiguren, Pappostereier, eine hübsche Kristallvase oder irgend etwas anderes Ansprechendes im Kaufhaus ergatterte, kaufte sie diesen Schatz und verwahrte ihn in einem großen Kleiderschrank im Kinderzimmer. Der war für uns Knirpse tabu. Mit Kleidung verhielt es sich ähnlich. Meine vorausschauende Mutter kaufte Pullover, Strumpfhosen, Kniestrümpfe und Unterwäsche, wenn es sie gab und legte sie für entsprechende Feiertage zurück. In Anbetracht der permanenten Knappheit von Konsumgütern jeglicher Art in der DDR war dieses Hamsterprinzip von unbedingtem Vorteil, wollte man nicht jedes Jahr die gleiche Pressglasvase verschenken. Unsere Gabentische jedenfalls fielen stets reichlich aus und waren voller Überraschungen, denn wir hielten uns größtenteils an das Schranktabu. Meist passte uns auch die vor einem dreiviertel Jahr gekaufte Unterwäsche noch.
 
Mein Vater und mein Opa hatten eine Sammlerleidenschaft für Baustoffe entwickelt. Drei Säcke Zement, einen Kubikmeter Holz, vier Quadratmeter gelbe Fliesen – Baustoffe wurden gekauft, wenn es sie gab, unabhängig davon, ob gerade das Bad neu gefliest werden sollte oder nicht. Innerhalb der kommenden zehn Jahre würde es schon nötig sein, das Bad neu zu fliesen. Und was man hat, das hat man. In Garage, Werkstatt und diversen Holzschuppen bei uns zu Hause stapelten sich alsbald Verbundbretter, Farben, Sauerkrautplatten und was man(n) sonst noch so zum Bauen gebrauchen konnte.
 
Mein Vater sammelte grundsätzlich auch alle Dinge, die bei den permanenten Umbaumaßnahmen unseres Hauses ausgemustert wurden und schaffte sie auf den Dachboden meiner Oma. Irgendwann würden sie sicher wieder zum Einsatz kommen. Unter dem Dach türmten sich sodann alte Fenster, die sich hervorragend für den Bau von Frühbeeten eigneten, ausrangierte Lampen, Waschbecken, Tische, Kinderwagen und Toilettendeckel. Die gelben Fliesen, die mein Opa seinerzeit über Beziehungen besorgt hatte, liegen noch heute ungeöffnet in Kartons. Vielleicht werde ich sie auf Ebay versteigern, zusammen mit den sechs Keramikwaschbecken und den rund einhundert Rollen Mustertapete, original aus den 70ern.
 
Wir Kinder taten es meinem Vater gleich. Im Laufe der Jahre begannen wir, unser ausgedientes, aber größtenteils gut erhaltenes Spielzeug auf Omas Dachboden zu schleppen. Abgegriffene Brettspiele, Puzzles und Zauberkästen, Roll- und Schlittschuhe, Puppenstuben, Puppenwagen, Kaufmannsläden, Bauernhöfe, Indianer- und Cowboy-Figuren samt Fort, Eisenbahnplatten, Schaukelpferde, ferngesteuerte Autos und Segelschiffe wurden unter dem Spitzdach eingelagert. Sogar Kinderschaukeln, Hüpfbälle, ein metergroßer weißer Teddybär, säuberlich gegen Staub in einer Mülltüte verpackt, und Bücher, gebündelt in Kisten, Kartons und alten Koffern, wo sich im Laufe der Jahre ihre Seiten wellten. Zum Wegwerfen waren die Sachen einfach zu schade und Ebay gab es damals noch nicht. Diverse Sammlungen und Einrichtungsgegenstände, für die unsere Kinderzimmer zu klein wurden, gesellten sich alsbald hinzu.
 
Bei unserem Umzug vor einem Jahr stöberte ich auf der Suche nach passablen Möbelstücken auch durch die auf Omas Dachboden deponierten Kindheitserinnerungen und fand sie nach Jahrzehnten wieder: meine Kaugummibilder-, Schokoladenpapier- und Serviettensammlungen. Letztere hatte aufgrund feuchter Winter etwas gelitten. Was hatten wir Kinder damals nicht alles gesammelt! Alles, was bunt und fröhlich aussah und in der DDR schwer oder gar nicht zu bekommen war. Alles von Autonummernschildern über Bierdeckel bis hin zu Zinnsoldaten und Zuckerstückchen – letztere gab es einzeln eingepackt nur in den Interhotels.
 
Besonders beliebt waren Kaugummibilder, die in den 80er Jahren als Zugabe den Kaugummipackungen aus dem Westen beilagen. In der Hofpause tauschten tüchtige Sammler mit Westbeziehungen Kaugummipapiere mit Motiven von Donald Duck und Micky Maus gegen Bubble-Gum-Bildergeschichten von Fix und Foxi und dem rosaroten Panther. Von Mamba gab es Kaugummibilder mit Geschichten von „Schleck“, einem pinkfarbenen Bären, und Punkten für den Eintritt in den so genannten „Schleck-Club“ mit „offiziellem Club-Ausweis in Schleck-Geheimschrift“. Welche weiteren Vorteile damit verbunden waren, entzog sich meiner Kenntnis. Sie spielten aber auch keine Rolle, denn der Beitritt war für mich trotz vollständiger Sammelpunktzahlnicht möglich, denn der Club war schließlich im Westen.
 
Ostdeutsche Kaugummibilder waren eine Rarität. Nicht nur, weil die echten Kaugummikauer den einzigen Ost-Kaugummi Jamboree verschmähten, denn er schmeckte grisselig und war praktisch ungenießbar, sondern vor allem, weil es keine Kaugummibilderbeilagen gab. Nur für einen in Lizenz hergestellten Kaugummi der Westmarke Babaloo zeichnete der Hallenser Jürgen Günther fünfzig Comicstrips von „Otto und Alwin“. Wir kannten und liebten den grasgrünen Gorilla und seinen kleinen Pinguin aus der Kinderzeitschrift FRÖSI (Fröhlich sein und singen) und mussten dem Zentralrat der FDJ dankbar sein, dass der auf einem einheimischen Künstler für die Kaugummibilder bestanden hatte.
 
Meine Schokoladenpapiersammlung umfasste 516 (fünfhundertundsechzehn!) verschiedene Einwickelpapiere, von Arco bis Waldbaur alphabetisch sortiert. Neben über einhundert westdeutschen Marken kamen einzelne Papiere sogar aus Holland, Österreich und der Schweiz. Schokoladenkreationen wie zart schmelzende Alpenmilch, knuspriges Blätterkrokant, exotische Aprikose, frische Pfefferminzcreme, fruchtige Kirsch-Sahne-Trüffel oder lockere Luftschokolade stellten ungewöhnliche Erfahrungen für unsere an gewöhnliche Vollmilch gewöhnten Gaumen dar. Wenn man kalkuliert, dass die meisten Verwandten zu Weihnachten zehn und mehr Tafeln der gleichen Sorte schickten, dann blühte die Schokoladenherstellung im Westen vornehmlich durch den Verbrauch im Osten.
 
Meine ostdeutschen Schokoladenpapiere ließen sich an einer Hand abzählen. Beliebt, weil mit 80 Pfennig günstig, aber im Geschmack schmierig und wenig schokoladig, war die „Schlager Süßtafel“. Weitaus besser schmeckten die kleinen Vollmilch-Täfelchen für 70 Pfennig von Zetti mit Motiven von Herrn Fuchs und Frau Elster und die gefüllte Knuspertafel, die immerhin 1,50 Mark kostete. Gut und günstig, aber nicht für jedermann zu haben, war die Vollmilch-Schokolade aus dem VEB Thüringer Schokoladenwerk Saalfeld, die als „preisgünstige Transitware nur zum Verbrauch auf hoher See bestimmt“ war und die uns mein Vater manchmal von Bord mitbrachte.
 
Raritäten meiner Sammlung waren russische Schokoladenpapiere wie Шоколад Ϲпорт (Schokolade Sport) und Романс (Romanze), laut Einwickelpapier hergestellt im „mehrfach als vorbildlicher sozialistischer Betrieb ausgezeichneten Kombinat Красный Октябрь (Roter Oktober) in Moskau“, oder die gewöhnliche Vollmilchschokolade „Ungewöhnlich“ aus dem Moskauer Konditoreikombinat Rot Front, für zwei Rubel und zwanzig Kopeken. Das Schokoladenpapierdesign war entsprechend „ungewöhnlich“. Während uns allein beim Anblick der hochglänzenden Nüsse, Trauben und Kaffeebohnen auf westlichen Schokoladenpapieren das Wasser im Mund zusammen lief, schienen sowjetische Hersteller nicht den deliziösen Inhalt, sondern andere Vorzüge in den Vordergrund zu stellen. Nicht sinnliches Verlangen nach delikater Süßigkeit, sondern sozialistisch-moralische Werte und die richtige Gesinnung beim Verzehr der Schokolade standen im Vordergrund der Werbebotschaft. Dem hehren Ziel der Erziehung zum guten sozialistischen Bürger unterlag offensichtlich auch die Schokoladeneinwickelpapierindustrie. So ziert die Schokolade „Aurora“ ein Bild des gleichnamigen Panzerkreuzers und die Schokolade „Kiew 1500“ ein heroisches Reiterdenkmal. Ich freute mich trotzdem, wenn ich die Papiere von meinen sowjetischen Brieffreundinnen geschickt bekam und reihte sie in meine Sammlung ein.
 
Meine Serviettensammlung umfasste eine ähnlich große Menge an Papierservietten, von einfarbigen Alltags- über bunte Festtagsservietten mit Osterhasen, Maikäfern, Weihnachtsengeln und Trauringen bis zu hauchdünnen Servietten mit getuschten Landschaften. Meine Oma hatte diese Sammlung vor Jahren begonnen und mir vererbt und ich hegte und pflegte sie und war zutiefst empört, als meine jüngere Schwester ebenfalls begann, Servietten zu sammeln, denn fortan mussten wir die begehrten Servietten aus den Westpaketen teilen.
 
Wie viele Kinder in der DDR sammelte ich auch Lack- und Abziehbilder, die ich in hellgrüne Geometriehefte einklebte. Während Lackbilder einfach mit Kleber eingestrichen wurden, war das Aufkleben von Abziehbildern eine Kunst für sich. Man musste zunächst die einzelnen Motive des Blättchens sorgsam ausschneiden und in lauwarmem Wasser einweichen. Dann schob man die hauchdünnen Bildchen vorsichtig vom Papier herunter auf ein Blatt. Waren die Bilder noch nicht ganz abgeweicht, zerrissen sie. Schob man sie zu schnell, wellten sie sich. Vergaß man sie gar im Waschbecken, verstopfte der Abfluss. So hörte man regelmäßig verdrießliche Flüche aus den Badezimmern der Abziehbildsammler. In meinen Schulheften tummelten sich Märchenfiguren, Sandmännchen, Pittiplatsch, Schnatterinchen und Verkehrsschilder. Mit Abziehbildern verzierte man auch Briefkuverts, Ostereier, Zahnputzbecher, Spiegel und Schränke. Ab Mitte der 80 Jahre kamen dann Aufkleber in die Läden und ich wechselte zu den selbstklebenden Bildchen, mit denen ich liebevoll meine Poesie- und Fotoalben verzierte.
 
Eine Weile sammelte ich Anziehpuppen, jene Papierpüppchen, denen man Papierkleider über die Papierkörper mit aufgemalter Unterwäsche stülpt, wobei umgeknickte Papierlaschen die Kleidung fixierten. Ein am Rücken festgeklebter Aufsteller verhalf ihnen zum Stehen. Der Ausschneidebogen kostete 35 Pfennig. Mein erstes Anziehpärchen stammte aus den 70er Jahren und trug Schlaghosen, bestickte Jeansanzüge und Strickponchos auf sonnengebräunter Haut. Ich hatte Anziehpuppen, die neben Schul-, Freizeit- und Abendgarderobe in sowjetischen Trachten, Kostümen im Wandel der Jahrhunderte oder in Arbeitsbekleidung verschiedener Berufe daher kamen. Ute, das Anziehmädchen, war Puppenmutter, Krankenschwester, Verkäuferin, Frisöse und Lehrerin. Uwe war ausstaffiert zum Koch, Lokführer, Clown, Maler und Doktor. Früh übte sich, wer mal was werden wollte. Eine Puppe hatte sogar kämmbare Haare und Augen, die sie öffnen und schließen konnte, je nachdem, wie man sie drehte. Die Mutter eines Urlaubsfreundes aus der Tschechoslowakei hatte sie mir geschickt; in der DDR gab es so ausgefallene Püppchen nicht.
 
Ich hatte auch eine Taschenkalendersammlung, zu der ich eher unbeabsichtigt gekommen war. Meine Brieffreundinnen aus der Sowjetunion schickten mir unermüdlich kleine Kalender, die sie sammeln und tauschen wollten und deren Vorderseiten Fotografien von Heldendenkmälern, rote Sowjetsterne und Stadtansichten aus Moskau, Leningrad und Brijansk, schmückten, mitunter auch Motive russischer Märchen und Zirkusattraktionen wie durch Feuerreifen springende Tiger oder tanzende Bären. Leider konnte ich den wiederholten Bitten meiner Brieffreundinnen nach Tauschobjekten nicht nachkommen, da Taschenkalender zwar in der DDR hergestellt, aber selten mit so attraktiven Motiven versehen wurden.
 
Ich sammelte noch unzählige andere Dinge wie Briefmarken, die ich mit Vater und Geschwistern tauschte, Abzeichen, die ich ebenfalls von meinen russischen Brieffreunden geschickt oder aber selber verliehen bekam, Postkarten mit lustigen Motiven, die ich in ein Kartenalbum steckte, und Ansichtskarten aus fernen Ländern, von denen ich leider nicht allzu viele erhielt, denn wer reiste schon in ferne Länder.
 
Heute habe ich die Anziehpuppen meiner Tochter geschenkt, die aber von Barbie und Polly Pocket ins Abseits gedrängt wurden. Meinen Söhnen vermache ich die Briefmarken, auf das die Sammlung wachse und gedeihe. Mit den Abziehbildern und Aufklebern verzieren wir Fotoalben, und die Schokoladenpapiere und Servietten darben im Keller. Vielleicht kann ich ja die Kaugummibilder bei Ebay einstellen und die ersteigerten Einnahmen in moderne Sammlungen von Computerspielen und elektronischen Gadgets investieren, da hinke ich derzeit hinterher. Es lebe die Sammlerleidenschaft.

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