
Kennen Sie das
afrikanische Märchen von der alten Schildkröte, die alles sammelte, was sie fand?
Gummibälle, Schnürsenkel, kaputte Regenschirme und andere ausgediente,
ihr nützlich scheinende Gebrauchsgegenstände schleppte sie nach Hause, obgleich
sie für keines dieser Objekte eine Verwendung hatte. Nacheinander jedoch besuchten
die Tiere der Savanne die Schildkröte und benötigten just einen dieser
wunderbaren Schätze, die ihnen die weise Sammlerin gönnerhaft überließ.
Nach dieser Geschichte könnte man meinen, wir lebten in der DDR wie im
Märchen. Wir sammelten alles, was wir fanden, und konnten alles gebrauchen, denn
die Dinge schienen stets schön und letztendlich meist auch nützlich. Wir
sammelten, weil es uns gefiel, weil es gerade zu haben war, oder weil es sogar wertvoll
war, wobei sich der Wert einer Sache nicht zwangsläufig über den Preis definierte.
Wir sammelten, weil wir es jetzt oder eventuell später einmal gebrauchen
konnten oder um es zu verschenken, zu verscherbeln oder einzutauschen. Wir
sammelten mit Voraussicht und Ausdauer, ähnlich wie die Schildkröte. In der DDR
entwickelte der Durchschnittsbürger eine Sammlerleidenschaft für die
unglaublichsten Dinge.
Meine Mutter sammelte Geschenke: Geburtstagsgeschenke,
Weihnachtsgeschenke, Ostergeschenke und Geschenke zu besonderen Anlässen. Wann
immer sie ein gutes Buch, erzgebirgische Holzschnitzfiguren, Pappostereier,
eine hübsche Kristallvase oder irgend etwas anderes Ansprechendes im Kaufhaus
ergatterte, kaufte sie diesen Schatz und verwahrte ihn in einem großen Kleiderschrank
im Kinderzimmer. Der war für uns Knirpse tabu. Mit Kleidung verhielt es sich ähnlich.
Meine vorausschauende Mutter kaufte Pullover, Strumpfhosen, Kniestrümpfe und
Unterwäsche, wenn es sie gab und legte sie für entsprechende Feiertage zurück. In
Anbetracht der permanenten Knappheit von Konsumgütern jeglicher Art
in der DDR war dieses Hamsterprinzip von unbedingtem Vorteil, wollte man nicht
jedes Jahr die gleiche Pressglasvase verschenken. Unsere Gabentische jedenfalls
fielen stets reichlich aus und waren voller Überraschungen, denn wir hielten
uns größtenteils an das Schranktabu. Meist passte uns auch die vor einem
dreiviertel Jahr gekaufte Unterwäsche noch.
Mein Vater und mein Opa hatten eine Sammlerleidenschaft für Baustoffe
entwickelt. Drei Säcke Zement, einen Kubikmeter Holz, vier Quadratmeter gelbe Fliesen
– Baustoffe wurden gekauft, wenn es sie gab, unabhängig davon, ob gerade das
Bad neu gefliest werden sollte oder nicht. Innerhalb der kommenden zehn Jahre
würde es schon nötig sein, das Bad neu zu fliesen. Und was man hat, das hat
man. In Garage, Werkstatt und diversen Holzschuppen bei uns zu Hause stapelten
sich alsbald Verbundbretter, Farben, Sauerkrautplatten und was man(n) sonst
noch so zum Bauen gebrauchen konnte.
Mein Vater sammelte grundsätzlich auch alle Dinge, die bei den
permanenten Umbaumaßnahmen unseres Hauses ausgemustert wurden und schaffte sie
auf den Dachboden meiner Oma. Irgendwann würden sie sicher wieder zum Einsatz
kommen. Unter dem Dach türmten sich sodann alte Fenster, die sich hervorragend
für den Bau von Frühbeeten eigneten, ausrangierte Lampen, Waschbecken, Tische,
Kinderwagen und Toilettendeckel. Die gelben Fliesen, die mein Opa seinerzeit über
Beziehungen besorgt hatte, liegen noch heute ungeöffnet in Kartons. Vielleicht
werde ich sie auf Ebay versteigern, zusammen mit den sechs Keramikwaschbecken
und den rund einhundert Rollen Mustertapete, original aus den 70ern.
Wir Kinder taten es meinem Vater gleich. Im Laufe der Jahre begannen wir,
unser ausgedientes, aber größtenteils gut erhaltenes Spielzeug auf Omas
Dachboden zu schleppen. Abgegriffene Brettspiele, Puzzles und Zauberkästen,
Roll- und Schlittschuhe, Puppenstuben, Puppenwagen, Kaufmannsläden, Bauernhöfe,
Indianer- und Cowboy-Figuren samt Fort, Eisenbahnplatten, Schaukelpferde,
ferngesteuerte Autos und Segelschiffe wurden unter dem Spitzdach eingelagert. Sogar
Kinderschaukeln, Hüpfbälle, ein metergroßer weißer Teddybär, säuberlich
gegen Staub in einer Mülltüte verpackt, und Bücher, gebündelt in Kisten,
Kartons und alten Koffern, wo sich im Laufe der Jahre ihre Seiten wellten. Zum
Wegwerfen waren die Sachen einfach zu schade und Ebay gab es damals noch nicht.
Diverse Sammlungen und Einrichtungsgegenstände, für die unsere Kinderzimmer zu
klein wurden, gesellten sich alsbald hinzu.
Bei unserem Umzug vor einem Jahr stöberte ich auf der Suche nach
passablen Möbelstücken auch durch die auf Omas Dachboden deponierten
Kindheitserinnerungen und fand sie nach Jahrzehnten wieder: meine
Kaugummibilder-, Schokoladenpapier- und Serviettensammlungen. Letztere hatte
aufgrund feuchter Winter etwas gelitten. Was hatten wir Kinder damals nicht
alles gesammelt! Alles, was bunt und fröhlich aussah und in der DDR schwer oder
gar nicht zu bekommen war. Alles von Autonummernschildern über Bierdeckel
bis hin zu Zinnsoldaten und Zuckerstückchen – letztere gab es einzeln eingepackt
nur in den Interhotels.
Besonders beliebt waren Kaugummibilder, die in den 80er Jahren als Zugabe
den Kaugummipackungen aus dem Westen beilagen. In der Hofpause tauschten tüchtige
Sammler mit Westbeziehungen Kaugummipapiere mit Motiven von Donald Duck und
Micky Maus gegen Bubble-Gum-Bildergeschichten von Fix und Foxi und dem rosaroten
Panther. Von Mamba gab es Kaugummibilder mit Geschichten von „Schleck“, einem pinkfarbenen
Bären, und Punkten für den Eintritt in den so genannten „Schleck-Club“ mit „offiziellem
Club-Ausweis in Schleck-Geheimschrift“. Welche weiteren Vorteile damit verbunden
waren, entzog sich meiner Kenntnis. Sie spielten aber auch keine Rolle, denn
der Beitritt war für mich trotz vollständiger Sammelpunktzahlnicht möglich, denn der Club war schließlich im Westen.
Ostdeutsche Kaugummibilder waren eine Rarität. Nicht nur, weil die echten
Kaugummikauer den einzigen Ost-Kaugummi Jamboree verschmähten, denn er schmeckte
grisselig und war praktisch ungenießbar, sondern vor allem, weil es keine
Kaugummibilderbeilagen gab. Nur für einen in Lizenz hergestellten Kaugummi der Westmarke
Babaloo zeichnete der Hallenser Jürgen Günther fünfzig Comicstrips von „Otto
und Alwin“. Wir kannten und liebten den grasgrünen Gorilla und seinen kleinen
Pinguin aus der Kinderzeitschrift FRÖSI
(Fröhlich sein und singen) und mussten dem Zentralrat der FDJ dankbar sein,
dass der auf einem einheimischen Künstler für die Kaugummibilder bestanden
hatte.
Meine Schokoladenpapiersammlung umfasste 516 (fünfhundertundsechzehn!) verschiedene
Einwickelpapiere, von Arco bis Waldbaur alphabetisch sortiert. Neben über einhundert
westdeutschen Marken kamen einzelne Papiere sogar aus Holland, Österreich und der
Schweiz. Schokoladenkreationen wie zart schmelzende Alpenmilch, knuspriges
Blätterkrokant, exotische Aprikose, frische Pfefferminzcreme, fruchtige
Kirsch-Sahne-Trüffel oder lockere Luftschokolade stellten ungewöhnliche
Erfahrungen für unsere an gewöhnliche Vollmilch gewöhnten Gaumen dar. Wenn man kalkuliert,
dass die meisten Verwandten zu Weihnachten zehn und mehr Tafeln der gleichen
Sorte schickten, dann blühte die Schokoladenherstellung im Westen vornehmlich
durch den Verbrauch im Osten.
Meine ostdeutschen Schokoladenpapiere ließen sich an einer Hand abzählen.
Beliebt, weil mit 80 Pfennig günstig, aber im Geschmack schmierig und wenig
schokoladig, war die „Schlager Süßtafel“. Weitaus besser schmeckten die kleinen
Vollmilch-Täfelchen für 70 Pfennig von Zetti mit Motiven von Herrn Fuchs und
Frau Elster und die gefüllte Knuspertafel, die immerhin 1,50 Mark kostete. Gut
und günstig, aber nicht für jedermann zu haben, war die Vollmilch-Schokolade
aus dem VEB Thüringer Schokoladenwerk Saalfeld, die als „preisgünstige
Transitware nur zum Verbrauch auf hoher See bestimmt“ war und die uns mein Vater
manchmal von Bord mitbrachte.
Raritäten meiner Sammlung waren russische Schokoladenpapiere wie Шоколад Ϲпорт (Schokolade Sport) und Романс (Romanze), laut Einwickelpapier hergestellt
im „mehrfach als vorbildlicher sozialistischer Betrieb ausgezeichneten Kombinat
Красный Октябрь (Roter Oktober) in Moskau“, oder die gewöhnliche Vollmilchschokolade
„Ungewöhnlich“ aus dem Moskauer Konditoreikombinat Rot Front, für zwei Rubel und zwanzig Kopeken. Das
Schokoladenpapierdesign war entsprechend „ungewöhnlich“. Während uns allein
beim Anblick der hochglänzenden Nüsse, Trauben und Kaffeebohnen auf westlichen
Schokoladenpapieren das Wasser im Mund zusammen lief, schienen sowjetische Hersteller
nicht den deliziösen Inhalt, sondern andere Vorzüge in den Vordergrund zu
stellen. Nicht sinnliches Verlangen nach delikater Süßigkeit, sondern
sozialistisch-moralische Werte und die richtige Gesinnung beim Verzehr der Schokolade
standen im Vordergrund der Werbebotschaft. Dem hehren Ziel der Erziehung zum
guten sozialistischen Bürger unterlag offensichtlich auch die Schokoladeneinwickelpapierindustrie.
So ziert die Schokolade „Aurora“ ein Bild des gleichnamigen Panzerkreuzers und die
Schokolade „Kiew 1500“ ein heroisches Reiterdenkmal. Ich freute mich trotzdem,
wenn ich die Papiere von meinen sowjetischen Brieffreundinnen geschickt bekam
und reihte sie in meine Sammlung ein.
Meine Serviettensammlung umfasste eine ähnlich große Menge an Papierservietten,
von einfarbigen Alltags- über bunte Festtagsservietten mit Osterhasen,
Maikäfern, Weihnachtsengeln und Trauringen bis zu hauchdünnen Servietten mit
getuschten Landschaften. Meine Oma hatte diese Sammlung vor Jahren begonnen und
mir vererbt und ich hegte und pflegte sie und war zutiefst empört, als meine
jüngere Schwester ebenfalls begann, Servietten zu sammeln, denn fortan mussten wir die begehrten
Servietten aus den Westpaketen teilen.
Wie viele Kinder in der DDR sammelte ich auch Lack- und Abziehbilder,
die ich in hellgrüne Geometriehefte einklebte. Während Lackbilder einfach mit
Kleber eingestrichen wurden, war das Aufkleben von Abziehbildern eine Kunst für
sich. Man musste zunächst die einzelnen Motive des Blättchens sorgsam ausschneiden
und in lauwarmem Wasser einweichen. Dann schob man die hauchdünnen Bildchen
vorsichtig vom Papier herunter auf ein Blatt. Waren die Bilder noch nicht ganz
abgeweicht, zerrissen sie. Schob man sie zu schnell, wellten sie sich. Vergaß
man sie gar im Waschbecken, verstopfte der Abfluss. So hörte man regelmäßig
verdrießliche Flüche aus den Badezimmern der Abziehbildsammler. In meinen
Schulheften tummelten sich Märchenfiguren, Sandmännchen, Pittiplatsch, Schnatterinchen
und Verkehrsschilder. Mit Abziehbildern verzierte man auch Briefkuverts, Ostereier,
Zahnputzbecher, Spiegel und Schränke. Ab Mitte der 80 Jahre kamen dann Aufkleber
in die Läden und ich wechselte zu den selbstklebenden Bildchen, mit denen ich
liebevoll meine Poesie- und Fotoalben verzierte.
Eine Weile sammelte ich Anziehpuppen, jene
Papierpüppchen, denen man Papierkleider über die Papierkörper mit aufgemalter
Unterwäsche stülpt, wobei umgeknickte Papierlaschen die Kleidung fixierten. Ein
am Rücken festgeklebter Aufsteller verhalf ihnen zum Stehen. Der Ausschneidebogen
kostete 35 Pfennig. Mein erstes Anziehpärchen stammte aus den 70er Jahren und
trug Schlaghosen, bestickte Jeansanzüge und Strickponchos auf sonnengebräunter Haut.
Ich hatte Anziehpuppen, die neben Schul-, Freizeit- und Abendgarderobe in sowjetischen
Trachten, Kostümen im Wandel der Jahrhunderte oder in Arbeitsbekleidung
verschiedener Berufe daher kamen. Ute, das Anziehmädchen, war Puppenmutter, Krankenschwester,
Verkäuferin, Frisöse und Lehrerin. Uwe war ausstaffiert zum Koch, Lokführer, Clown,
Maler und Doktor. Früh übte sich, wer mal was werden wollte. Eine Puppe hatte
sogar kämmbare Haare und Augen, die sie öffnen und schließen konnte, je nachdem,
wie man sie drehte. Die Mutter eines Urlaubsfreundes aus der Tschechoslowakei
hatte sie mir geschickt; in der DDR gab es so ausgefallene Püppchen nicht.
Ich hatte auch eine Taschenkalendersammlung, zu der ich eher unbeabsichtigt
gekommen war. Meine Brieffreundinnen aus der Sowjetunion schickten mir
unermüdlich kleine Kalender, die sie sammeln und tauschen wollten und deren Vorderseiten
Fotografien von Heldendenkmälern, rote Sowjetsterne und Stadtansichten aus Moskau,
Leningrad und Brijansk, schmückten, mitunter auch Motive russischer Märchen
und Zirkusattraktionen wie durch Feuerreifen springende Tiger oder tanzende
Bären. Leider konnte ich den wiederholten Bitten meiner Brieffreundinnen nach
Tauschobjekten nicht nachkommen, da Taschenkalender zwar in der DDR hergestellt,
aber selten mit so attraktiven Motiven versehen wurden.
Ich sammelte noch unzählige andere Dinge wie Briefmarken, die ich mit Vater
und Geschwistern tauschte, Abzeichen, die ich ebenfalls von meinen russischen
Brieffreunden geschickt oder aber selber verliehen bekam, Postkarten mit
lustigen Motiven, die ich in ein Kartenalbum steckte, und Ansichtskarten aus
fernen Ländern, von denen ich leider nicht allzu viele erhielt, denn wer reiste
schon in ferne Länder.
Heute habe ich die Anziehpuppen meiner Tochter geschenkt, die aber von
Barbie und Polly Pocket ins Abseits gedrängt wurden. Meinen Söhnen vermache ich
die Briefmarken, auf das die Sammlung wachse und gedeihe. Mit den Abziehbildern
und Aufklebern verzieren wir Fotoalben, und die Schokoladenpapiere und
Servietten darben im Keller. Vielleicht kann ich ja die Kaugummibilder bei Ebay
einstellen und die ersteigerten Einnahmen in moderne Sammlungen von Computerspielen und elektronischen Gadgets investieren, da hinke ich derzeit hinterher. Es lebe die Sammlerleidenschaft.
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