Montag, 20. Mai 2013

PA, TZ und ESP -- Oh jemine!


Was ist eigentlich ein Ambulatorium?
Jeder hat sie, jeder nutzt sie. Alle haben ihre eigenen, damit sie uns das Leben erleichtern – sofern wir sie verstehen. Dann machen sie uns zum Insider. Verstehen wir sie nicht, sind wir außen vor. Von Abkürzungen ist die R.e.d.e. Die eiligen Buchstabenkettchen und Akronyme wurden nicht von Fanta4 erfunden, wenn auch diese fröhlich-sprachspritzigen HipHoper in eingängiger Weise die geballte Ladung neudeutschen Abkürzungswahns melodisch aufreihten, wir mitsummten und wussten, wir gehören dazu: „MfG“– Mit freundlichen Grüßen, 88 Abkürzungen in drei Minuten. Seit der Antike erfreuen wir uns dieser kernigen Modewörter. Das Abkürzungswörterbuch verzeichnet 50.000 Einträge, nahezu stündlich werden es mehr.
 
In der DDR begann unsere Kürzel-Alphabetisierung bereits in der Schule. Der allgemeine Bildungspfad durchzog sich von der POS (Polytechnische Oberschule) zur BBS (Betriebsberufsschule) oder FS (Fachschule), oder über EOS (Erweiterte Oberschule) zur HS (Hochschule), IH (Ingenieurhochschule), TH (Technische Hochschule), PH (Pädagogische Hochschule), OHS (Offiziershochschule) oder sogar PHS (Parteihochschule). Wir organisierten uns in der FDJ (Freie Deutsche Jugend), mit FR (Freundschaftsrat) und GOL (Grundorganisationsleitung), in Sportgemeinschaften vom ASK (Armeesportklub) oder DTSB (Deutscher Turn- und Sportbund) und kämpften in Spartakiaden und Olympiaden. Im Deutschunterricht interpretierten wir Texte von KuBa (Kurt Barthel) und BB (Bertolt Brecht) und diskutierten in Jugendstunden den WS (Wissenschaftlichen Sozialismus). Eine typische Unterhaltung zwischen Vater und Tochter (15 Jahre), die soeben aus der Schule kommt, gestaltete sich möglicherweise wie folgt:
Vater: Hallo, Schatz. [Kuss auf die Wange.] Na, was gibt’s Neues in der Schule?  
Tochter (eher gelangweilt): Nichts Besonderes. In Geo hatten wir die Bodenschätze der SU. In Stabi mussten wir einen Artikel im ND lesen. Urst langweilig. In Mathe hat mein SR 1 gestreikt. Muss wahrscheinlich ’ne neue Batterie rein. Physik fetzte. Der Polylux fiel aus und Herr Block war total nervös. Stolperte über einen Papierkorb, den wir ihm in den Weg stellten, als er rückwärtsging. Wir haben alle urst gelacht.
Vater: Hast Du schon deinen neuen Stundenplan?
Tochter: Ja. Dienstags haben wir UTP. Alle zwei Wochen PA. Die anderen Wochen ESP und TZ. Die letzten drei Wochen vor den Ferien haben wir ZV. Die Jungs fahren ins ZV-Lager. Wir Mädchen haben ZV in der Schule. Das ist echt unfair. Und alle, die an die EOS wollen, mussten eine Karte ausfüllen: was sie mal werden wollen und wo sie Mitglieder sind. Ich habe FDJ, DSF und GST angegeben. Und meine AGs. Wir mussten sogar die PKZ eintragen. Zum Glück hatte ich meinen Persi dabei.
Vater: Na, gut dass du den dabei hattest.
Tochter: Und ab der Elften müssen wir ein Fach als FKR dazu wählen. Ich mache vielleicht Französisch. WPA haben wir dann auch. Was hast’n du heute gemacht?
Vater: An der Garage weiter gebaut. Nebenan war heute die SMH. August hatte einen Schlaganfall. Die haben ihn gleich mitgenommen.
Tochter: Oh. Hoffentlich geht es ihm wieder gut. Papi, weiß du was, wir sollen eine Idee entwickeln, für die MMM. Bis nächste Woche. Keine Ahnung, was ich da machen soll.
Vater: Dir fällt schon was ein. Mami hat Dir übrigens einen Zettel hingelegt. Du sollst nachher zum Konsum gehen und fünf R6 Batterien holen. Sie war gestern in der HO und hat die vergessen. Auf dem Weg kannst du gleich bei SERO die Kronkorken abgeben. Und bring eine FF mit, und die Fuwo. Die NBI wird schon weg sein, aber du kannst ja mal gucken…
Tochter: Mach ich. Kann ich mir das Mosaik kaufen?
Vater: Ja. Dann kauf aber auch was für deine Geschwister.
Tochter: Die FRÖSI?
Vater: Ja, gut. Mami traf gestern übrigens Frau Tauber. Vom RFT-Laden. Diese Woche sollen die neuen SKR 700 reinkommen. Sie will uns einen zurückstellen.
Tochter: Super. Das wär ja toll. Du, stell dir vor, Petra aus der A-Klasse soll zur KJS. Und weißt du was? Micha hat sich von seinem Jugendweihegeld eine Simson gekauft. Aber keine dunkelgrüne wie meine, sondern eine hellgrüne. Er wollte eigentlich eine MZ. Hat ihm aber seine Mutter verboten. Und im SpoWa haben sie heute Schlittschuhe verkauft. Ich brauch doch neue. Meine alten sind zu klein. Der Weihnachtsmann könnte sie mir ja bringen. Ich hab’ jedenfalls welche zurücklegen lassen. Können wir nachher noch mal hinfahren?
Vater: Naja, wenn’s sein muss, gut.
Tochter: Und in zwei Wochen haben wir Subbotnik, am Sonnabend. Dann könnt ihr mich schon früher von der Schule abholen, um halb zwölf.

Nun, haben Sie alles verstanden? Keine Frage, wenn Sie im Osten aufwuchsen. Wenn nicht, prüfen Sie Ihr Wissen; am Ende gibt’s die Auflösung für die Kürzel im Gespräch.
 
Abkürzungen durchzogen nicht nur unseren schulischen Alltag. Beliebter Tummelplatz für Abkürzungen waren auch Zeitungsanzeigen. Eine Heiratsannonce im Magazin, Heft 8/1963, las sich folgendermaßen: „Sekretärin (Berlin) 24/1,64, ansprech., wü. sich liebev. charakterf. aufgeschl. Ehepart. Bes Int.: klass. Musik, Theater, Natur, harm. Heim, Stud., Akadem., Lehrer erw.“  Oder so: „Eins. jg. Mann, 28/1,65, Nichttänzer, Schichtarbeiter, musik., film- u. naturlieb., wünscht aufricht. Mädchen zw. spät. Heirat kennenzul. Nur ernstgem. Bildzuschr. Mögl. Raum Bln. erw.“ Hoffen wir, dass er nicht lange einsam blieb. Es ging auch noch knapper: „Drd, 45/1,75, FSA, m.-l. WA, NR“ Die Übersetzung: „Dresdner, 45/1,75, Fachschulabsolvent, marxistisch-leninistische Weltanschauung, Nichtraucher.“ Ähnliche Anzeigen erschienen in den Zeitschriften Für Dich oder Magazin, in der Berliner Wochenpost allein jährlich etwa 13.000.
 
Viele Kürzel und DDR-eigene Begriffe entstanden in kommunikativen, weil Linientreue ausdrückenden, Zwangssituationen, oder verkörperten Machtgefüge. Das begann in der Mehrparteienlandschaft. Ja, die gab es tatsächlich. Neben der SED existierten die Blockparteien DCU, DBD, LDPD und NDPD – theoretisch eigenständig, aber auf SED-Kurs. Genossenschaften folgten, wie AWG, BHG, FPG, GPG, LPG, PGH und PGB. Betriebe waren „volkseigen“, ergo VEB (Volkseigener Betrieb), ebenso wie Güter (VEG) und Verlage (VEV). Wahrscheinlich hatten auch Gewerkschaften ihre Abkürzungen. Es gab immerhin fünfzehn. Die kannte aber kaum einer, da alle im Dachverband FDGB organisiert waren, im politisch-ideologischen Machgefüge von der SED instrumentalisiert. Von den Ämtern wie dem ASMW (Amt für Standardisierung, Messwesen und Warenprüfung) will ich gar nicht erst anfangen.
 
Viele Abkürzungen gab es nur auf dem Papier, und das ist bekanntlich geduldig. Abkürzungen wie EVP für „Einzelhandelsverkaufspreis“ sprachen wir nicht. Im Alltagsdeutsch hieß das weiter „Preis“. Wir sagten auch nicht „ETW“ für Eierteigwaren, sondern Nudeln. EDV war gängiger, doch da „Elektronische Datenverarbeitung“ weniger elektronisch als viel mehr alphanumerisch erfolgte, übersetze man lakonisch EDV mit „Ende der Vernunft“. Konfusion im Kopf durch CAD/CAM = „Computer am Dienstag, Chaos am Mittwoch“.
 
Heute weiß jeder im Land, egal ob dies- oder jenseits ehemaliger Sprachgrenzen, dass wir im Osten nicht den Führerschein, sondern die Fahrerlaubnis machten, keine Zwei-Zimmer-, sondern eine Zwei-Raum-Wohnung bewohnten, und nicht Hot Dogs, sondern Ketwurst, und Broiler statt Grillhähnchen aßen. Das Angebot war das Sortiment, denn Sonderangebote gab es nicht. Und im Sommer fuhren wir an den FKK, nicht an irgendeinen Strand.
 
Unsere Eltern arbeiteten in Kollektiven und Brigaden und aßen mittags in der Werkküche. In unserer Freizeit betrieben wir Popgymnastik und nicht Aerobic. Wir hörten neben NDR2 "unser" DT 64 und schauten DFF. Unser DJ war ein Schallplattenunterhalter. Wir kauften im Konsum und HO, die Besserverdiener gern im DELI und Ex. Und im Centrum, nicht im Kaufhaus. Wir hatten Dederon, Malimo, Plaste und Elaste, Silastik und Sprelacart, nicht Nylon, Perlon, Molton, Plastik, Lycra und Resopal. Unsere Mütter engagierten sich im Elternaktiv, nicht im Elternbeirat. Wir besuchten unsere pensionierten Rentner nicht im Alters- sondern Feierabendheim. Unsere Manager waren „Leiter-Kader“ und unsere Spione im imperialistischen Ausland als „Kundschafter des Friedens“ im Einsatz.
 
Einige Sprachmythen muss ich revidieren. Wir sagten nicht Textilverbundelement, sondern Knopf, und das Ambulatorium kannte ich nur von meiner Alfons Zitterbacke-Schallplatte, denn Rostock hatte eine Poliklinik. Wir sagten auch nicht „Geflügelte Jahresendfigur“, sondern Weihnachtsengel. Diese hübsche Umschreibung wurde durch die beliebte Satirezeitschrift Eulenspiegel bekannt, die stets Kurioses abdruckte, so auch einen von einer Leserin eingesandten, realen Beipackzettel mit der Aufschrift „Jahresendflügelfigur“. Unseren Volkspolizisten nannten die Kinder der 1950er und 60 Jahre noch „Vopo“ oder „Weiße Maus“, in den 80er Jahren hieß er „Bulle“. „Schau“ war alles in Berlin, nicht aber an der Küste, und den MuFuTi, den Multifunktionstisch, lernte ich erst im DDR-Museum in Berlin kennen, denn meine Eltern und Verwandten besaßen keinen. 
 
Aber was waren schon unsere Abkürzungen gegen heutige Berufs- und Jargon-spezifische Abbreviationen, Akronyme, Codes, Kürzel und Emoticons. Da liest man ILUVEMIDI (ich liebe und vermisse dich), MUMIDIRE (muss mit dir reden), WIDUMIMIGE (willst du mit mir gehen?) oder ZL (zieh Leine) auf Handys. Politiker und Wortakrobaten bereichern unseren Wortschatz mit Konstrukten wie RkReÜAÜG, dem „Rinderkennzeichnungs- und Rindfleischetikettierungsüber-wachungsaufgabenübertragungsgesetz“, mit 86 Buchstaben das längste Gesetz der Welt. An den VHS (Volkshochschulen) werden womöglich bald Kurse in NL (Netz-Latein) angeboten, die dem gestressten Bürosachbearbeiter helfen, seine wachsende Flut an E-Mails mit englischen Abkürzungen wie ASAP, CU, FYI oder LOL zu entziffern, und der Normalbürger lässt sich demnächst ein ZefAMeF, ein Zentrum für Abkürzungsmerkfunktionen, ins Gehirn implantieren, über das Techniker vermutlich von Natur aus verfügen.

Kleines Glossar alltagstauglicher ostdeutscher Abkürzungen und Wendungen:

Geo: das Schulfach Geographie; außer politischen Inhalten hat sich bis heute wenig geändert
SU: Sowjetunion, unser „Big Brother“ im Osten; UdSSR war politisch korrekter, aber zu lang
Stabi: auch Stabü, so sagten wir Schüler, da informeller als das offizielle Staatsbürgerkunde
ND: Neues Deutschland, DAS Organ des Zentralkomitees der SED, die ich aber nie lesen musste, da meine Eltern die Junge Welt abboniert hatten
SR1: vom Staat subventionierter Schul-Rechner, ab Klasse 7 im Mathematikunterricht eingesetzt; unser Jahrgang 1985/86 war der erste, der mit Taschenrechner statt Rechenschieber rechnen durfte
Polylux: einziger Overhead-Projektor aus DDR-Herstellung, Kennzeichen: laute Lüftung
urst: wie Wurst ohne W, soll heißen „sehr, total“, aber nicht in der DDR erfunden
UTP: obligatorischer Unterrichtstag in der Sozialistischen Produktion ab Klasse 7
PA: ob unsere Produktive Arbeit in Betrieben tatsächlich produktiv war, bezweifle ich, aber wir lernten Gewinde schneiden, Punktschweißen und Löten
ESP: Einführung in die Sozialistische Produktion, ähnlich der Wirtschaftslehre, nur sehr viel praxisferner; im Grunde das langweiligste Schulfach überhaupt
TZ: Technisches Zeichnen, Teil des UTP; durchaus lehrreich, wollte man Architekt werden
ZV: Zivilverteidigung, Teil des Wehrunterrichts an den Schulen
EOS: Erweiterte Allgemeinbildende Polytechnische Oberschule, das ostdeutsche Gymnasium; führte nach der POS in vier, seit 1984 in zwei Jahren zum Abitur nach der 12. Klasse
FDJ: Freie Deutsche Jugend, einzige staatlich anerkannte Jugendorganisation
DSF: Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, in der 6 Millionen Ostdeutsche (1985) die „Freundschaft des Herzens und der Tat“ in Schulen und Betrieben zelebrierten
GST: Gesellschaft für Sport und Technik, paramilitärische Jugendorganisation, in der vor allem Jungen gern, weil besonders günstig, die Fahrerlaubnis machten
AGs: Arbeitsgemeinschaften, außerunterrichtliche, kostenlose, „staatlich sinnvolle“, für gute Beurteilung wichtige und meist interessante Freizeitangebote in Schulen und Pionierhäusern
PKZ: Personenkennzahl, stand im „Persi“ und in der Zentralen Personendatenbank in Berlin
Persi: Personalausweis (PA), erhielt jeder Bürger ab 14 und war stets am Mann zu tragen
FKR: schulischer Fakultativer Kurs nach Rahmenplan ab Klasse 7, üblicherweise Englisch
WPA:  Wissenschaftlich-praktische Arbeit in EOS, mehr praktisch als wissenschaftlich
SMH: Schnelle Medizinische Hilfe, im Ernstfall fast so schnell wie die westliche „Erste Hilfe“
MMM: Messe der Meister von Morgen, auf der kleiner und großartiger Ingenieurs-Nachwuchs mit meisterlichen Erfindungen oder marginalen Verbesserungen aufwartete
Konsum: hat nichts mit langem “u” und Verbrauch zu tun, sondern heißt bei betonter erster Silbe „Lebensmittelgeschäft“ der Konsumgenossenschaft
R6: Angabe einer Batteriegröße (AA); hat nichts mit gleichnamiger Zigarettenmarke zu tun
HO: Handelsorganisation, staatliches Einzelhandelsunternehmen in Volkseigentum
SERO: stand für VEB Kombinat Sekundär-Rohstofferfassung und dessen Annahmestellen, die flächendeckend in jedem Ort Altstoffe aufkauften und in den Wirtschaftskreislauf rückführten
FF: eigentlich FF-Dabei, einzige DDR-Fernsehzeitschrift, mit 1,5 Mio. Exemplaren Auflage
Fuwo: Die Neue Fußballwoche, wöchentliche Fußballzeitschrift des DFV für 50 Pfennig
NBI: Neue Berliner Illustrierte, themenvielfältige Wochenzeitschrift und stets vergriffen
Mosaik: beliebteste Comiczeitschrift, in der nach den Digedags (1955-75) die Abrafaxe (nicht mehr ganz so cool und witzig, aber besser als Atze) Abenteuer in Raum und Zeit erlebten
FRÖSI: von Fröhlich sein und singen, Zeitschrift für Pioniere und andere kindliche Leser
RFT: Verbund verschiedener Hersteller von Rundfunk- und Fernmelde- bzw. Fernsehtechnik, später (wohl nicht ganz treffend) mit Repräsentant Fortschrittlicher Technik übersetzt
SKR 700: Stereo-Kassettenrekorder, für 1.540 Mark und Beziehungen ab 1985 im Handel; aber mit nur einem Kassettenteil uncooler als Doppelkassettenrekorder des Westens
KJS: Kinder- und Jugendsportschule, Kaderschmiede für Olympiasieger und Dopingopfer
Simson: Moped aus dem VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk Simson Suhl, das nicht mehr zur Vogelserie (Schwalbe, Spatz, Star) gehörte, sondern gänzlich unpoetisch  „S51“ hieß
MZ: der Inbegriff des ostdeutschen Motorrads; eine schwarze MZ aus dem VEB Motorradwerk Zschopau, robust und sportlich, davon träumte jeder Jugendliche
SpoWa: Sportwaren, Kaufhaus für Sport- und Campingartikel, Sport- und Pionierkleidung
Subbotnik: (meist un-)freiwilliger, unbezahlter Arbeitseinsatz am Sonnabend, von Pionieren gern für Altstoffsammelaktionen genutzt; von subota (russ.) = „Sonnabend“

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