Ich
mochte keine Ferienlager. „Wieso denn?“ wird der geneigte Leser an dieser
Stelle vielleicht erstaunt fragen, sofern er im Osten aufgewachsen ist,
und enthusiastisch rufen: „Ferienlager in der DDR – das war doch der schönste
Platz im Sozialismus.“ Ich widerspreche dieser einhelligen Meinung nur ungern,
aber ich fühlte mich in Ferienlagern als Kind nicht wohl. Ich will auch erklären
warum, und damit alle Leser, die diese ostdeutsche Institution nie kennen
gelernt haben, in die Eigenheiten des sozialistischen Ferienlagerlebens einweihen.
Ich
war ein eher schüchternes Kind, fremden Kindern gegenüber zurückhaltend. In den
Ferien, die im Idealfall neun Wochen dauerten, spielte ich bei meiner Oma oder
mit Freunden im Dorf. Am liebsten las oder malte ich. Ich reiste auch gern mit
meiner Familie in den Urlaub, und in der ersten Klasse fuhr ich sogar allein
mit dem Zug zu meiner Tante und vermisste meine Eltern überhaupt nicht.
Bei dem Wort Ferienlager jedoch wurde
ich skeptisch. Ich war kein Freund von organisierten Massenveranstaltungen, und
da ich ein eher schüchternes Kind war, fühle ich mich nicht wohl inmitten von Gruppen
fremder, tobender Kinder. Doch ich war neugierig. Mein Vater malte seine
Ferienlagererlebnisse in leuchtenden Farben, und meine Mutter, die in einem
religiösen Haushalt aufgewachsen und nie in Betriebsferienlager gefahren war,
schwärmte von ihren Rüstzeiten: „Pass auf, es wird dir gefallen. Dort sind
viele Kinder. Du findest sicher eine gute Freundin.“
So kam es, dass ich nach der zweiten
Klasse erstmals in ein Sommerferienlager fuhr. Diese waren eine durchaus
sinnvolle Einrichtung. Organisiert und ausgestattet von den Betrieben der
Eltern, konnten werktätige Mütter und Väter ihre Sprösslinge für den symbolischen
Betrag von fünfzehn Mark in die Ferien schicken – Anreise, Vollverpflegung und
Unternehmungen inklusive. Morgens in aller Herrgottsfrühe lieferte meine Mutter
mich auf dem Bahnhof ab. Es war noch dämmrig. Der Tau lag auf den
Bahnhofsbänken. Ich fror in meiner dünnen Sommerjacke. Hunderte von Kindern
warteten mit Koffern, Taschen und Rucksäcken auf dem Bahnsteig. Vielleicht
waren es weniger. Aber es waren viele. Zu viele.
Der Abschied war qualvoll. Mir war zum
Heulen. Meine Mutter wollte mir Mut machen: „Ich wünsch’ Dir viel Spaß, Schatz.
Nimm es nicht so schwer.“ Sie hatte gut reden. Ich umklammert sie fest und
versuchte, meine Tränen zu unterdrücken. Im Zug suchte ich mir einen
Fensterplatz, kuschelte mich in meine Jacke, knabberte an meiner Käsestulle und
lauschte den schrillen Unterhaltungen der anderen oder stellte mich schlafend.
Die Zugfahrt dauerte eine gefühlte
Ewigkeit. Nach zehn Stunden kamen wir irgendwo in der Pampa an. Es folgte eine
endlose Busfahrt und eine ebenso endlose Wanderung zum Ferienobjekt, weitab
jeglicher Zivilisation, wie mir schien, mitten im Thüringer Wald. Dort
erwartete uns ein Betongebäude mit großer Halle. Hier würden wir die kommenden
drei Wochen verbringen. Von der Halle gingen die Schlaf- und Waschräume auf
zwei Etagen ab. Wir wurden in Gruppen eingeteilt. In unserem Schlafraum standen
sechs Doppelstockbetten für zwölf Mädchen und Jungen. Ich versuchte tapfer zu
sein.
Die Waschräume waren kühl. Warmes Wasser
gab es nicht, also duschte ich eher selten. Einmal wusch ich mir die Haare und
der Schaum blieb kleben. Daraufhin verschenkte ich meine gelben Shampookissen
und stieg auf Katzenwäsche um. Ich hatte die Nase voll.
Das Essen war reichlich und übertraf die
gewohnte Schulspeisung. Morgens gab es Dreifruchtmarmelade auf Mischbrot, am
Wochenende Brötchen. Am Nachmittag Kuchen und zum Abend Wurst und Käse, Tomaten
und Gurken als Beilagen. Mittags freuten wir uns auf Milchreis, Senfei oder
Hühnerfrikassee mit Krautsalat. Zu Trinken gab es Pfefferminztee, der gezuckert
in riesigen Aluminium-Kannen für den ganzen Tag bereit stand. Für die gute Verpflegung
des Lagers sorgte die Deutsche Seerederei, der Betrieb meines Vaters. Der
Lagerleiter musste nur mit seinem Lagerleiterausweis schwenken und der
Großhandel bediente ihn bevorzugt. Staatliche Anweisung.
Für Tagesausflüge hatte ich eine
Aluminium-Brotdose und eine hellgrüne Trinkflasche aus Plaste mitgebracht, die
nach jahrelangem Gebrauch braun angelaufen war und den Teegeruch nicht mehr
loswurde. An Wandertagen erhielten wir Verpflegungsbeutel mit Wurstbroten, hart
gekochten Eiern und Schmelzkäse, den wir aus der Verpackung lutschten. Vom mitgeschickten
Taschengeld kauften wir uns Eis und Bockwürste. Ich kaufte Mitbringsel für
meine Geschwister. Ich vermisste sie plötzlich sehr.
Der Ferienlageralltag war straff durchorganisiert.
Von morgens bis abends wurden wir beschäftigt, damit wir abends gut schliefen.
Auf dem Plan standen Ausflüge in benachbarte Städte, Schwimmen im nahe
gelegenen Waldsee und Tageswanderungen, bei denen wir aus voller Brust
Wanderlieder schmetterten wie: „Dass wir aus Rostock sind, das weiß ein jedes
Kind. Wir reißen Bäume aus, wo keine sind. Ja, das stimmt.“
Abends saßen wir erschöpft am Lagerfeuer
und sangen zu Gitarrenklängen das „Lied vom kleinen Trompeter“ und „Sag mir, wo
die Blumen sind“. Lagerfeuerromantik pur. Manchmal wurden abends Filme gezeigt.
Ein alter Vorführapparat wurde dann in einem Gruppenraum aufgestellt, wir
hockten auf dem Fußboden, reckten unsere Hälse und lachten über die „Die
tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten“. Dabei störte es nicht, dass der
Film in schwarz-weiß und vom Klassenfeind war. Die großen Mädchen bevorzugten
Disko. Dann räumten Kinder und Erzieher Tische und Stühle in der Halle
beiseite, schleppten einen Kassettenrekorder hinein und die Kleinen beobachteten
die Großen beim Tanzen. Um zehn Uhr war Nachtruhe.
Ausschlafen gab es auch in den Ferien
nicht. Das war etwas für bürgerliche Waschlappen, nicht aber für sozialistische
Frohnaturen, befand die zentral-staatlich geschulte Lagerleitung. Morgens
weckte uns die Lagerklingel euphorisch zum Frühsport. Gähnend krochen wir aus
den Betten, zogen lustlos unser Sportzeug an und trotteten zum Sportplatz. Vor
dem Frühstück machten wir müde Kniebeugen, Hockstrecksprünge und Rumpfheben.
„Und zum Schluss eine Runde durch den Wald“, pfiff Gruppenleiterin Silvia.
Hatten die Gruppenleiter am Vorabend gefeiert, fiel der Frühsport aus und wir
atmeten auf. Gewissenhafte Erzieher nominierten indes einen Vertreter aus
unseren Reihen zum Vorturner. Das Sport-Ass übernahm die Führungsaufgaben,
wollte glänzen und scheuchte uns umso konsequenter.
Am dritten Tag organisierte der eigens
für die Pflege des Sports berufene Sportfunktionär das Sportfest. Dies war ein
Höhepunkt in jedem Ferienlager. Für mich ein Tiefpunkt. Weder Wettlaufen noch
Tauziehen lösten Jubelgefühle in mir aus. Ich gehörte nicht zu den
Sportskanonen und mein Mannschaftsgeist war diesbezüglich unterentwickelt. Am
liebsten hätte ich mich krank gemeldet. Und prompt, wie auf Bestellung, bekam
ich Bauchschmerzen und wurde vom Wettstreit befreit.
Ein weiterer obligatorischer Höhepunkt
war das Neptunfest, das von der Lagerleitung geschickt als Disziplinarmaßnahme
eingesetzt wurde. Aufsässige Jungs und vorlaute Mädchen konnten für ihr
Benehmen vom Meeresgott höchstpersönlich zur Räson gebracht werden. Während wir
Kinder gespannt am Ufer warteten, kam ein dicker Neptun mit Badehose und grünen
Krepppapieralgen mitsamt Gefolge im Ruderboot über den See geschippert. Seine
Häscher pirschten sich von allen Seiten an. Mit den Kleinen hatten sie leichtes
Spiel. Die Großen aber hatten sich ausgeklügelte Fluchtpläne zurechtgelegt. So
dauerte es schon mal eine Viertelstunde, bis die Häscher stöhnend und außer
Atem den widerspenstig zappelnden Täufling an Händen und Füßen herbeischleppten.
Dieser wurde mit Rasierschaum eingeseift, mit stinkender Senf-Essig-Pampe
gefüttert und ins brackige Wasser geworfen. Ich beobachtete das Treiben aus
sicherer Entfernung und hoffte inständig, nicht auf Neptuns Liste zu stehen.
Neben sportlichen und kulturellen
Aktivitäten legte der Staat, der seine gebieterische Hand über unsere
Ferienlagergestaltung hielt, großen Wert auf gesellschaftliche und wehrpolitische
Erziehung. Wir machten Geländeübungen und waren an einem Tag „Gruppe vom
Dienst“, was mir durchaus berichtenswert erschien. „Wenn wir Gruppe vom Dienst
sind“, schrieb ich nach Hause, „dürfen wir das Lager nicht verlassen. Und zwei
Kinder müssen Wache am Lagertor halten.“ Wir saßen im Wachhäuschen und
protokollierten alle Ein- und Ausgänge in einem Lagerbuch. Einmal fehlten zwei
Kinder bei der abendlichen Kontrolle des Buches. Schlagartig war das Lager in
helle Aufregung versetzt. Suchtrupps wurden geformt, Telefonate geführt, Kinder
befragt. Schließlich fand man die zwei seelenruhig in ihren Betten. Sie hatten
lediglich vergessen, sich nach dem Tagesausflug wieder persönlich im Buch einzutragen.
Ich fand im Ferienlager wenig
Gleichgesinnte. Die meisten Kinder (1984 fuhren zwei Millionen Kinder in
fünftausend Betriebsferienlager) vergnügten sich königlich bei Morgenappellen
und Wettbewerben um das sauberste Zimmer. Ich hatte Heimweh und konnte nicht
ertragen, dass uns ein diktatorischer Neptun erziehen wollte und uns
Beschäftigungen zwangsverordnet wurden. Bei dem Programm blieb wenig Zeit für
individuelle Interessen wie Lesen oder Malen. (Computerspiele gab es noch
nicht.) Es existierten auch keine Spielsachen, von Sportgeräten wie Bällen,
Tischtennis- und Federballschlägern einmal abgesehen. Lediglich zum Briefe
schreiben wurde uns regelmäßig Zeit eingeräumt, denn die Eltern sollten erfahren,
wie gut es ihren Kindern ging. Ich wartete sehnsüchtig auf den Tag der
Heimreise und schrieb am 7. Juli 1981 an meine Eltern: „Wenn ich nach Hause
komme, werde ich Euch versprechen, dass ich Euch helfen will und viel Klavier
üben möchte.“ Im Brief stellte ich außerdem klar: „Ich fahre nächstes Jahr
nicht mehr ins Ferienlager. Auch übernächstes Jahr nicht.“
Zwei Jahre später überredeten mich meine
Eltern, der sozialistisch organisierten Feriengestaltung erneut eine Chance zu
geben. Ich war jetzt elf und selbstbewusster. Wenig überzeugt fuhr ich nach
Hohndorf ins Erzgebirge. Die Unterbringung war demoralisierend. Das
Ferienobjekt des VEB Esda „Walderholung“ zeichnete sich durch schmutzige
Baracken mit dunklen Schränken, löchrigen Wänden und wackligen
Doppelstockbetten aus. Zu den übel riechenden Plumpsklos hinter dem spärlich
beleuchteten Sportlatz gingen wir nur in Grüppchen. Abends versuchten wir uns
den Gang zu verkneifen, was selten klappte.
Kurz nach der Ankunft der zweite Schock:
Ich hatte meinen Kofferschlüssel zu Hause vergessen. Während die anderen
Mädchen ihre Koffer auspackten, stand ich bekümmert im Raum und war den Tränen
nahe. Meine Erzieherin nahm entschlossen die Schere zur Hand. Überhaupt: Nichts
lief nach Plan. Meine Mutter hatte die falsche Zahnpasta eingepackt. „Warum
hast Du mir eigentlich Putzi eingesteckt? Du weißt doch, dass ich damit nicht
putze“, schrieb ich vorwurfsvoll nach Hause. Das Wetter war schlecht, es
regnete, die Baracken waren kalt. Frierend heulte ich mich nachts in den
Schlaf.
Ich hatte Heimweh und
Bauchschmerzen. Meinen Eltern schrieb ich herzzerreißende Briefe: „Liebe Mami,
hole mich doch bitte, bitte schnellstens ab von hier.“ Im Nachhinein tun mir
meine Eltern leid. Sie fühlten sich sicher schlecht. Ungefähr so, wie ich mich
morgens fühle, wenn ich meinen Sohn weinend im Kindergarten abgebe. Ich habe
einen dicken Klumpen im Bauch und rede mir ein: „Er beruhigt sich wieder, ihm
wird es schon gefallen. Und wenn es gar nicht geht, hole ich ihn einfach ab.“
Von Abholen konnte ich damals nur träumen. Mein Vater war auf See, meine Mutter
arbeitete, eine Freistellung gab es nicht und ich war am anderen Ende der
Republik. Die durchquerte man nicht einfach mal so mit dem Lada.
Fünf
Tage nach Ankunft wurde ich so krank, dass man mich auf die Krankenstation
schickte. Dort verbrachte ich den Rest der drei Wochen. Und hatte endlich
Ferien. Kein Frühsport, keine Sportfeste, keine Neptuntaufen. Dafür Ausschlafen,
stundenlanges Lesen, Malen, Träumen und Quatschen mit meinen zwei
Bettnachbarinnen. Kinder besuchten mich und erzählten von Geländeübungen und
Probealarm mit Rauchbomben bei Regen und Gewitter. Ich hatte nicht das Gefühl,
etwas zu verpassen. Schwester Gisela versorgte uns liebevoll mit Milchreis, frischen
Früchten und Pfefferminztee. Meinen Eltern berichtete ich erleichtert: „Hier
vergeht die Zeit viel schneller, denn wir drei Mädchen lesen uns immer gegenseitig
etwas vor.“
Im
folgenden Jahr entging ich dieser „wichtigen jugendpolitischen Maßnahme“. Es
sollte aber nicht mein letzter Ferienlagerbesuch sein und auch ich würde das
Ferienlager als „schönsten Ort im Sozialismus“ schätzen lernen. Aber das
ist eine andere Geschichte.
Was habt Ihr im Ferienlager erlebt? Ich freue mich auf Eure Kommentare, Berichte, Erinnerungen, Erlebnisse und Emotionen?
AntwortenLöschenFrühsport im GST-Lager wahr eine echte qual für mich. Beim frühmorgendlichen Antritt hab ich versucht in der zweiten oder dritte Reihe einen Stehplatz zu bekommen. Nur so konnte ich meine Kordel schließen und mein Hemd reinstecken während ich aus verschlaffenden Augen frühsportlern nachäffte. Ausserdem konnte ich weiterhinten mein - wiederholt, unasugeschlaffener Weise - falsche Schuhwerk besser verbergen. Wach wurde ich erst in der dritten Lagerrunde, der "Tach" wahr dahin, die Sonne schien irgendiwe immer heiss, und ich sehnte mich schon nach den nächtlichen Fluchversuchen die uns in der Nacht bis in die Ostsee trieben. Andere traffen sich mit Mädels. Die wahren die Kings im Lager!
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