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Kann man dem Echo trauen? Was darf man ihm erzählen? |
Meine
Freundin Christine liebte ihren Kindergarten. Sie war vier und konnte es am Wochenende
nicht erwarten, am Montagmorgen mit Brottasche und Sportbeutel von ihrer Mutter
im gräulich gescheckten Flachbau Bummi
abgeliefert zu werden. Pünktlich um halb zwölf holte ihre Mutter sie wieder ab,
denn sie war Mittagskind.
Christines größter Traum war es, einmal im Kindergarten
Mittag zu essen. Gemeinsam mit allen Kindern an den kleinen Tischchen sitzen,
die kleinen Händchen flach neben die Tellerchen gepresst, auf eine Kelle Spinat
mit Rührei wartend, die kleinen Gläschen mit süßem Pfefferminztee gefüllt, erschien
ihr märchenhaft. Danach auf den klapprigen Klappliegen Mittagschlaf halten, zusammen
mit ihren Freunden, im kollektiven Einvernehmen sozusagen, war gewiss etwas
Wunderbares. Ein zusammenschweißendes Erlebnis allemal. Und endlich würde sie
mal nicht die flüchtigen und mitunter ein wenig neidvollen Seitenblicke der
anderen Kinder auf sich ziehen, die ebenso gern Mittagskinder gewesen wären, es
aber nie waren. Und die schrill und kurz angebunden brüllten: „Tine,
abgeholt.“, sobald Tines Mutter den Kopf zur Tür hineinsteckte, sich dann
abrupt abwandten und unbeeindruckt weiter spielten. So als wäre Tini nie beim
Puppenspiel dabei gewesen. Das war doch bisweilen sehr verletzend, und sie bat
ihre Mutter inständig, sie doch einmal, nur einmal, ein wenig später, vielleicht
nach dem Mittagschlafen, abzuholen. „Geht nicht. Du hast nur einen Halbtagsplatz“,
erklärte die Mutter dem betrübten Kind.
Folglich nutzte Christine ihren halben Tag im Kindergarten umso
tatkräftiger. Eifrig machte sie mit bei den Beschäftigungen, die Frau Klusmeier,
ihre freundliche Erzieherin, gewissenhaft mit ihren Zwergen durchführte. Christine
malte weiße Friedenstauben, die wie lustige Wattebällchen aussahen, schnitt
behutsam Blumen aus rotem Buntpapier aus, sang „Kleine weiße Friedenstaube“ und
schlug die Klanghölzer dazu exakt im Takt. „Die Vögel und Blumen schenken wir
den freundlichen Soldaten der Nationalen Volksarmee“, erklärte Frau Klusmeier,
„Sie stehen für uns auf Wacht und schützen den Frieden.“ Das hörte sich bedeutungsvoll
an. Und sie trennte sich ohne Widerspruch und nur mit ein bisschen Wehmut von
ihren Wattebällchen-Tauben. Christine murrte nie, klagte nie. Ein Vorzeigekind.
Eines Morgens saßen alle Kinder im Kreis und Frau Klusmeier
fragte mit engelsgleicher Stimme: „Wer weiß denn, wer unser
Staatsratsvorsitzender ist?“ Christine meldete sich stürmisch. Sie wusste die
Antwort. Na klar. Das weiß doch jeder. Ist ja babyleicht. Den Namen hatte sie
schon oft zu Hause gehört, im Fernsehen, und manchmal am Küchentisch. Sie war
sich ganz sicher, und stolz platzte sie heraus: „Bundeskanzler Helmut Schmidt.“
Frau Klusmeier runzelte leicht die Stirn. Äußerlich blieb sie
ruhig. Sie atmete hörbar langsam. Leise und bestimmt sagte sie: „Nein, Christine,
das ist falsch. Unser Staatsratsvorsitzender ist Erich Honecker.“ Christine war
erschüttert. Verwirrt und ein wenig bekümmert sah sie Frau Klusmeier an. Ihr
Blick schien zu sagen: „Sind Sie sich auch ganz sicher, Frau Klusmeier? Ich
weiß das aber anders. Sie können ja meine Eltern fragen.“
Frau Klusmeier schien unbeeindruckt. „Hier habe ich ein Bild von
Erich Honecker für Euch mitgebracht“, flötete sie. „Erich Honecker tut viel
Gutes für unser Land. Auch für Euch Kinder. Ihm verdanken wir den Frieden. Und
dass es allen Kindern in unserem schönen Land so gut geht und kein Kind Hunger
leidet.“ Christine war mucksmäuschenstill. Das mit dem Hunger stimmte
wohl, Frau Klusmeier schien sehr überzeugt. Aber das mit dem
Staatsratsvorsitzenden? Sie nahm sich vor, zu Hause nachzufragen, was es mit
diesem Erich Honecker auf sich hatte. Wieso hatten ihre Eltern ihr nichts von
ihm erzählt? Er schien ein Held zu sein. So einer wie Sigmund Jähn, von dem ihre
Erzieherin ihnen letzte Woche berichtet hatte. Der war Kosmonaut und für den
Frieden in den Weltraum geflogen, hatte Frau Klusmeier gesagt.
Am kommenden Tag standen zwei gewichtige Herren in dunklen
Mänteln vor Christines Haustür und wünschten ein Gespräch mit ihren Eltern. Sie
erkundigten sich mit verkniffenen Lippen, welche Sender denn zu Hause geschaut
würden. „Das Fernsehen der DDR,“ erklärten die Eltern ungerührt. Woher denn
ihre Tochter den Namen Helmut Schmidt kenne? Und wie sie diesen Menschen für
den Staatsratsvorsitzenden halten könne?
Oh, tat sie das? Das war uns nicht bekannt. Den Namen habe
sie sicher irgendwo, wahrscheinlich im Kindergarten, aufgeschnappt, erklärten
die Eltern. Kleine Kinder tun so etwas. Sie hören irgendetwas und plappern es dann
nach. Sehr unbedacht, gewiss. Beinahe kriminell. Aber sie wüssten doch, wie das
sei mit kleinen Kindern, nicht wahr? Die Herren schauten skeptisch und tuschelten
leise. Laut sagten sie, man solle doch häufiger die „Aktuelle Kamera“ mit dem
Kind schauen. In den Nachrichten könne man dem Kind unseren Staatsratsvorsitzenden
zeigen, und darauf hinweisen, welche wichtigen sozial-politischen Errungenschaften
er durchgesetzt hatte. Christines Eltern nickten zustimmend. Natürlich, das sei
eine gute Idee. 19.30 Uhr sei ja auch noch nicht zu spät für das Kleinkind. Danach
könne es ja gleich einschlafen und morgens um sechs sei es dann wieder munter
für den Kindergarten. Sagten die Eltern aber nicht laut. Die Herren hüstelten
und verschwanden.
Als sie gegangen waren, riefen die Eltern Christine zum
vertraulichen Gespräch. Bedeutungsvoll erklärten sie ihr, dass es zwei deutsche
Länder gebe. Das eine, in dem sie wohne, heiße DDR und werde von Erich Honecker
regiert. Das andere, wo Tante Helga, Onkel Dieter, Tante Gisela und Onkel Karl lebten,
heiße Deutschland, und werde von Helmut Schmidt regiert. Das dürfe sie aber
nicht im Kindergarten erzählen. Einige Kinder wüssten das nicht und wären
sicher traurig, wenn Christine etwas erzähle, worüber die anderen nicht
Bescheid wüssten. Im Kindergarten solle sie lieber nur von Erich Honecker
sprechen, den würden alle Kinder kennen. Oder zumindest bald kennen lernen. Christine
war ein intelligentes Kind und begriff schnell.
So wie viele Kinder damals schnell begreifen mussten, was sie
wem, wo, wann und warum erzählen durften und was nicht, um sich und ihre
Familie politisch zu schützen. Die falschen Worte am falschen Ort zu der
falschen Person konnten ungeahnte Konsequenzen haben und im schlimmsten Fall Verwandte
und sogar Eltern und Geschwister hinter Gitter bringen. Kinder wuchsen schon im
Kindergarten als kleine Diplomaten auf.
„Ein Diplomat ist ein
Mann, der offen ausspricht, was er nicht denkt“, formulierte der italienische
Journalist, Schriftsteller und Ideologiekritiker Giovannino Guareschi. Dessen
literarische Protagonisten Don Camillo und Peppone, liebeswerte Antipoden im
Clinch zwischen Kirche und Kommunismus, schlitzohrig und schlagfertig
gleichermaßen, waren indessen alles anderes als diplomatisch. Diplomatisches
Verhalten bescheinigt, laut Wikipedia,
den Agierenden „Kompromissbereitschaft und den Willen, die Absichten und
Wünsche jedes Beteiligten zu berücksichtigen.“ Also, wenn das nicht genau dem
Verhalten der „Diplomaten“-Kinder entsprach. Ihre Antworten kamen voll und ganz
den Wünschen aller Beteiligten entgegen, also den Lehrern und Erziehern. Kompromissbereit
erklärte Christine sich mit Erich Honecker als Staatsratsvorsitzendem (ein
schweres Wort für eine Vierjährige) einverstanden. Treu und auf Linie formulierten
wir auch später unsere Aufsätze in Staatsbürgerkunde und Deutsch, die Anregungen
unserer Lehrer aufgreifend und phantasievoll ausschmückend.
Sicher hätte Frau Klusmeier auch anders reagieren können als
gleich der Familie die Stasi auf den Hals zu hetzen. Ein stilles Schmunzeln,
ein wissendes Lächeln über „Kindermund tut Wahrheit kund“ wäre vielleicht angebrachter
gewesen. Doch wer weiß, wie es ihr ergangen wäre, hätte sie so nachgiebig, ja sogar
nachlässig reagiert. Wie lange noch wäre ihr als Pädagogin im Kindergarten Bummi die Erziehung der Kleinsten
anvertraut worden? Die Augen und Ohren „unseres“ Staatsratsvorsitzenden waren
überall. Und die seiner Ehefrau Margot, seit 1963 (bis 1989, lange
sechsundzwanzig Jahre) Volksbildungsministerin. Ihr lag die politische Bildung
der Kleinsten besonders am Herzen, ihr politischer Druck war kompromisslos und
mächtig. In ihrem sozialistisch-dogmatischen Bildungssystem wollten und mussten
wir bestehen. Chancengleichheit hin oder her. Reine Idealisierung. Es gab keine
individuelle, leistungsabhängige, ideologiefreie Förderung, keinen Schulerfolg
entsprechend persönlicher Begabungen. Nicht an der Polytechnischen Oberschule.
Was es gab war Langeweile für leistungsstarke und Überforderung für
leistungsschwache Schüler im Gleichmacher-Schulsystem. Wenn ich in diesem
System bestehen und die Oberschule besuchen und studieren wolle, erklärten mir
meine Eltern frühzeitig, dann müsse ich in der Schule sagen, was die Lehrer
hören wollten, und nicht, was ich selber dachte oder gar die politischen Überzeugungen
unserer Familie widerspiegelte.
Ähnlich wie Christine lernte auch ich früh zu unterscheiden,
was ich wem erzählen durfte und was ich besser für mich behielt. In der ersten
Klasse rieten meine Eltern mir, nicht jedem zu erzählen, dass ich die
Christenlehre besuche, denn das würde meine Aussichten auf einen Platz an der
Erweiterten Oberschule und das Abitur stark beeinträchtigen. Ich sollte möglichst nicht über Sendungen im Westfernsehen
sprechen, die ich zu Hause schaute. Selbst wenn der Samstagabendfilm auf ARD Thema
in der Hofpause wäre, sollte ich mich zurück halten. Das war manchmal
schwierig, in einigen Fällen allerdings für das Erhalten von Freundschaften
durchaus vorteilhaft. Da hatte ich die schnulzig-schöne Weihnachtsserie Silas auf ZDF gesehen und konnte nicht
mit meiner Freundin Andrea über Patrick Bachs zuckersüße Frisur quatschen, denn
Andrea hatte kein Westfernsehen, da ihre Mutter Richterin war. Sie hätte nicht
mitreden können, und wer weiß, wie weit sich ihre Kenntnisse über meine Westfernsehgewohnheiten
herumgesprochen hätten. Westfernsehen war mir (im Gegensatz zu ihr) zwar nicht verboten,
doch von Staatsseite her auch nicht gern gesehen. Das konnte einem schon den
Spaß am Fernsehen wenn nicht verderben, so doch beeinträchtigen.
Ich sollte nicht darüber reden, dass meine Oma Pakete aus dem
Westen geschickt bekam. Fragten meine Klassenkameraden nach der Herkunft meiner
schicken Nikis und Jeans (die neueste Mode aus dem Westen trugen wir einige
Jahre später, wenn die Kleidung dort, weil unmodisch, abgelegt wurde), sollte
ich antworten, mein Vater hätte sie aus dem Ausland mitgebracht. Da er zur See
fuhr, wäre das für ihn generell möglich gewesen, wäre es denn um seine Devisen
besser bestellt gewesen. Natürlich konnte ich nicht sagen, meine Mutter hätte
die Jeans im Modeladen Exquisit gekauft,
denn Stonewash Jeans gab es auch dort nur in einer einzigen Ausführung. Solche
Jeans gab es nicht im Osten. Höchstens in Ungarn. Mit Angebot und Marken kannten
wir uns aus.
Am deutlichsten schärften meine Eltern mir ein, gewisse private
Informationen und Gesprächsthemen unter allen Umständen für mich zu behalten. Welche,
dafür entwickelte ich mit zunehmendem Alter ein untrügliches Gespür. Als Kind
hätte ich sicher nicht verstanden, warum Kollegen von meinem Vater sich im
Nord-Ostsee-Kanal vom Schiff abgesetzt hatten, und sie nun vielleicht ihre
Kinder zu Hause nie wieder sehen würden.
Ich wurde Diplomat. Ich lernte, mit wem ich über
Weihnachtsserien diskutieren konnte, und mit wem nicht. Mit wem ich über
Klamotten und Westpakete sprechen konnte und mit wem nicht. Mit wem ich über Religion
sprechen konnte. Und mit wem nicht. Ich lernte, wem ich Geheimnisse anvertrauen
konnte. Und wem auf keinen Fall.
Auch wenn uns in frühester Jugend noch nicht wirklich klar
war, was eine mögliche Missachtung dieser Rederegeln für uns bedeuten konnte. Das
war in den Fünfziger Jahren anders. Meine Mutter wuchs in ständiger Angst auf,
ihr Vater könne von Männern in schwarzen Igelit-Mänteln abgeholt werden und
nicht mehr heimkommen, falls sie nur etwas Falsches sagte. Oft genug geschah es,
dass Menschen einfach verschwanden. In den Siebzigern lernte ich diese Angst
nicht mehr kennen. Gleichwohl war mir bald sonnenklar, dass falsche Äußerungen Konsequenzen
hätten. Vor allem bei meiner Ausbildung, mahnten meine Eltern.
Hatte dieses „diplomatische“ Verhalten Auswirkungen auf unseren
gesunden Menschenverstand? Lebten wir dabei nicht in ständigem Argwohn? Wurden
wir da nicht schizophren? Nein. Man verlernte vielleicht zu sagen, was man wirklich
dachte oder behielt es einfach für sich. Man baute vielleicht eine zynische
Distanz zu gewissen Themen auf. Die aber kommt uns heute auch zugute – in einer
Zeit, in der Distanz en vogue und Zynismus
populär ist, in der wir zynische Distanz zur eigenen Geschichte und Kultur täglich
erleben. Unsere „Diplomatenausbildung“ ist uns auch im Beruf von Nutzen. Wir
sind vorsichtiger, kompromissbereiter, überlegter mit unseren Äußerungen, vor
allem Autoritäten gegenüber, was aber nichts mit Feigheit oder Unehrlichkeit zu
tun hat. Wir sind lediglich ein wenig feinfühliger für anderer Menschen Geltungsbedürfnis
und Arroganz. Und erlauben ihnen ihre Absichten und Wünsche, frei nach der
Devise: „Der Diplomat schafft den Spagat.“