Für uns war der „Kampftag der
Werktätigen“ stets ein besonderes Ereignis, auf das wir uns freuten. Nicht wegen
des politischen Hintergrundes. Unsere Beweggründe waren weitaus trivialer. Wir
hatten schulfrei. Kein Unterricht, keine Hausaufgaben. Kein Grund jedoch, nach
Ansicht des Staates, den Tag mit Müßiggang zu vertun. Anspruchsvollen Ausgleich
gewährleisteten die zum „Tag der Arbeit“ als staatliches Ritual verordneten Paraden, die wir mitlaufen
mussten oder, falls uns das „bedauerlicherweise“ nicht möglich war, in den Medien
verfolgen konnten.
Dieser Feiertag wollte gut vorbereitet sein. In der Nacht zuvor schmückten die Menschen
ihre Häuser mit roten Fahnen und DDR-Flaggen. Das wurde erwartet. Vor allem von
jenen, die an verkehrsreichen Knotenpunkten und entlang der Hauptmarschroute
wohnten. Für die Einhaltung dieser „freiwilligen“ Obliegenheit sorgten treue
Staatsdiener. Ihren Argusaugen entging keine graue Fassade und sie scheuten nicht davor zurück, an Haustüren zu klopfen und die Bewohner nachdrücklich an
ihre Pflicht zu erinnern. Unsere im Jugendstil 1890 erbaute Stadtvilla ziert
noch heute die eigens für die DDR-Fahne angebrachte Fahnenhalterung an der stuckverzierten
Fassade, die sich kürzlich als hervorragend für das Hissen diverser
Piratenwimpel und Ritterflaggen unserer Söhne erwiesen hat.
Meine Eltern
besaßen damals weder rote noch schwarz-rot-goldene mit Hammer und Sichel
verzierte Stoffe, weshalb unser Haus jedes Jahr ungeschmückt blieb. Sehr zum
Leidwesen der dörflichen Parteifunktionäre. Denn sofern Sie glauben, im Dorf
würde man über derartige Kleinigkeiten hinwegsehen – weit gefehlt. Unser
Bürgermeister fühlte sich stets persönlich beleidigt, dass Parteifreund Klaus
sein Haus nicht schmückte. Man mochte
es ihm verzeihen, denn Klaus war auf See und von seiner werktätigen Frau, die
sich außerdem um drei Kinder, Haus, Hund, Auto und Garten kümmern musste,
konnte man derartige zusätzliche Aufmerksamkeiten vielleicht nicht erwarten.
Eine freundliche Erinnerung befanden die Parteifreunde dennoch für angebracht.
Auch wir Kinder bereiteten uns
vor. Gründlich. Unsere Vorbereitungen durchzogen alle Altersstufen,
Lernbereiche und Schulfächer. Im Kindergarten übten wir Wochen vorher fröhliche
Lieder, die wir drei Oktaven zu hoch im Gruppenraum trällerten: „Mit
fliegenden Fahnen ziehn wir in den Mai, wir Großen und Kleinen, wer wär nicht
dabei! Heut ruht alle Arbeit. Wir freun uns der Welt und tanzen und springen,
wie’s grad uns gefällt.“
Unser fröhlich-beschwingtes Liedgut wurde in der Schule konsequent
erweitert und unser Repertoire an Marschliedern erwies sich als geradezu
unerschöpflich. Im Unterricht sangen wir „Pioniere, voran, lasst uns vorwärts
gehn! Pioniere, stimmt an, lasst die Fahnen wehn! Unsre Straße, sie führt in
das Morgenlicht hinein, wir sind stolz, Pioniere zu sein!“ Auf der Straße
änderten wir den Text geringfügig in: „Wiener Würstchen, voran, lasst uns vorwärts
gehn. Wiener Würstchen, voran, lasst den Senf nicht stehn. Unsre Straße, sie
führt in den Suppentopf hinein. Wir sind stolz, Wiener Würstchen zu sein.“ Wozu
das Marschieren mindestens ebenso gut, wenn nicht besser klappte.
In der Unterstufe bastelten wir Wimpel, Fahnen und Plakate, so genannte
Wink-Elemente, für die Parade. Unsere Wandzeitung in der Klasse gestalteten wir
mit Zeitungsausschnitten, selbst gemalten Nelken und Fähnchen. Da das Thema
jedes Jahr auf dem Wandzeitungsplan stand, war die Kreativität des Wandzeitungsredakteurs,
den jede Klasse zu Schuljahresbeginn für ein Jahr wählte, nicht sonderlich
gefordert. Er konnte auf einen Schuhkarton voller gestalterischer Elemente
zurückgreifen.
In den höheren
Klassen wurden FDJ-Nachmittage zum Ersten Mai veranstaltet, was sich schon als
schwieriger erwies. Seit Jahren hatten wir das Thema von allen Seiten beleuchtet, hatten gelernt, warum in den sozialistischen Ländern der 1. Mai als „Internationaler
Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus“ begangen wird
und ausführlich die Traditionen der internationalen Arbeiterbewegung
besprochen. Was wir nicht gelernt hatten, war die Entstehung des Feiertages. Weder im Geschichts- noch im Staatsbürgerkundeunterricht
hatten unsere Lehrer erwähnt, dass historisch der 1. Mai bei unserem
Klassenfeind in den USA entstand. Okay, das weiß auch heute niemand, bis auf Leute wie mich, die zufällig amerikanische Geschichte studierten. Sei es
meiner Ignoranz geschuldet oder meiner Unaufmerksamkeit im Unterricht, ich
jedenfalls wuchs auf in dem Glauben, dass dieser Tag eine Erfindung des Sozialismus
sei. und war schockiert, als ich das Gegenteil erfuhr.
Damals, im Jahre 1886, rief die
nordamerikanische Arbeiterbewegung zum Generalstreik auf, um den Achtstundentag
durchzusetzen. Woraufhin es in Chicago zu gewalttätigen Auseinandersetzung
zwischen Demonstranten und der Polizei kam. Die Gewalt eskalierte und eine Bombe
explodierte. Bei dem anschließenden Aufruhr, die in die US-Geschichte als Haymarket
Riot einging, wurden über zweihundert Arbeiter verletzt und getötet. Zum
Gedenken an die Opfer rief man auf dem Gründungskongress der Zweiten
Internationalen Arbeiterbewegung 1889 den 1. Mai als „Kampftag der
Arbeiterbewegung“ aus. Diese Umstände waren uns in der DDR bis auf den
Gründungskongress gänzlich unbekannt. Und selbst der wurde den Russen als
Verdienst zugeschoben, obgleich doch „unser“ Friedrich Engels den Kongress
angeregt und vorbereitet hatte.
Der 1. Mai stand auch im Kunstunterricht
jedes Jahr auf dem Lehrplan. In der zweiten Klasse malte ich einen braunen LKW
mit rosa Rädern auf drei Achsen, geschmückt mit bunten Wimpeln, roten Nelken
und Frühlingszweigen, dazu heiter winkende und rote Fahnen schwenkende Kinder und
Friedenstauben unter einer strahlend rotgelben Sonne. In der vierten Klasse
zeichnete ich mit Ausziehtusche ein Selbstportrait beim Festumzug. Mit Halstuch
und Pionierkäppi und mit Blumen winkend lache ich dem Betrachter zu, hinter mir
eine bunte Parade fröhlicher Kinder und Erwachsener. Wimpel, rote Fahnen und
Transparente schwenkend marschieren sie vorbei an quadratischen Häuserblocks
mit roten Gardinen und Fahnen. Eine Szene aus dem Leben. Unsere Bilder
schmückten die Treppenflure unserer Schule.
In Punkto Malen von
Maidemonstrationen entwickelte ich eine Strategie; meine Bilder ähnelten sich jedes
Jahr. In Heimatkunde Klasse Zwei illustrierten die gleichen jubelnden Menschen den
Text in meinem Heft: „Der 1. Mai ist ein Kampf- und Feiertag der Werktätigen in
aller Welt. In den sozialistischen Ländern freuen sich die Menschen über das,
was sie geschaffen haben. Sie zeigen, dass sie dafür kämpfen wollen, dass
überall auf der Welt die Menschen in Glück und Frieden leben können. Wir freuen
uns auf den 1. Mai!“ Ja, das taten wir wirklich. Das brannte sich ein.
In der vierten Klasse stimmten wir uns mit
einem Diktat auf den Feiertag ein. Am 7. April 1983 schrieb ich in mein
hellgrünes Diktatheft Diktat Nr. 6: „Der Kampftag der Werktätigen. Am 1.
Mai marschieren die Arbeiter, die Genossenschaftsbauern und die anderen Werktätigen
der Deutschen Demokratischen Republik für Frieden und Sozialismus. Sie zeigen
die Ergebnisse der geleisteten Arbeit. Alle können sehen, wie sich unsere
Menschen unter der Leitung der Partei der Arbeiterklasse zusammengeschlossen
haben. Auch wir Pioniere stehen fest an der Seite der Genossen. Der Festzug ist
jedesmal ein großes Erlebnis. Fehler: 0; Note: 1“ Seinerzeit wurde „jedes Mal“ noch zusammen geschrieben.
Ich muss allerdings gestehen: an der Seite der Genossen stand ich am 1.
Mai nie. Da an diesem Tag die Schulbusse nicht fuhren, hatten wir Dorfkinder eine gute Entschuldigung, nicht bei den Umzügen in der Stadt mitzujubeln. Folglich
kam ich nie in den Genuss dieses „großen Erlebnisses“, aber das musste man ja
nicht gleich an die Wandzeitung hängen. Dieser Umstand wurde besser nicht
erwähnt, denn er wirkte sich nicht gut auf die Gesamtbeurteilung aus. Ich hatte dennoch nie das Gefühl, etwas
verpasst zu haben. So ein Tag schulfrei mitten in der Woche kam uns Dorfkindern
sehr gelegen: wir konnten ausschlafen, spielen und hatten zudem Haus und
Hof für uns allein, denn unsere Eltern mussten marschieren. Dafür fuhren sie
mit dem öffentlichen Bus oder Auto in die Stadt.
Angesichts zahlreicher Fernsehübertragungen der jährlichen
Maidemonstrationen in Berlin und noch zahlreicheren Fotos in den Zeitungen
konnte ich mir gleichwohl ein lebhaftes Bild der Umzüge machen, als wäre
ich selbst dabei gewesen. Erich Honecker saß mit seinem Gefolge auf der
Ehrentribüne, nahm huldvoll lächelnd Blumen und gebastelte Wimpel der Jungen
Pioniere entgegen, schüttelte auserwählte Hände des Volkes um zu signalisieren
„Ich bin einer von euch!“ und lauschte anerkennend den Reden über die Planerfüllung
in Industrie und Handwerk. Nicht mehr der Kampf um soziale und politische
Rechte, sondern das Streben nach wirtschaftlichem Fortschritt stand im
Mittelpunkt der Kundgebungen. Die Militärparaden nach sowjetischem Vorbild, die
ab 1956 zur Demonstration des Kampfpotentials abgehalten wurden, hatte man nach
Ende des Kalten Krieges eingestellt. Fortan verzichtete die SED-Führung auf das
militärische Ritual des Aufmarsches der „gepanzerten Faust der Arbeiterklasse“,
ließ die Ehrentribüne absenken und näherte sich vorsichtig dem Volk.
Mein Vater, der als Seemann zu den „anderen Werktätigen“ zählte, marschierte ebenfalls
selten. Er war meist auf See. Doch auch an Board wurde dieser Feiertag
feierlich begangen. Morgens versammelte sich die Mannschaft zum Flaggenappell
auf dem Achterdeck, und obgleich man auf hoher See stets ungeflaggt fuhr,
würdigte man an diesem hohen Feiertag unter der Staatsflagge Aktivisten mit
Urkunden, Medaillen und (besonders beliebt) Sofortprämien in Bar. Die Mannschaft arbeitete
verkürzt und nachmittags feierte man mit Bier, Kaffee und Kuchen.
Meine Mutter, deren Anwesenheit als Kapitänsfrau bei den
Maidemonstrationen genauestens registriert wurde, setzte sich morgens in ihren olivgrünen
Lada und fuhr leidenschaftslos zur Umzugs-Pflichtveranstaltung nach Rostock. Nach
endlosem Gruppieren zog der Marsch vorbei an Tribünen mit führenden
Parteimitgliedern, Ehrengästen und „verdienten Persönlichkeiten“ des
öffentlichen Lebens, geschmückt mit roten Mainelken aus Plastik im Knopfloch,
produziert in der Kunstblumenfabrik Sebnitz. Seitdem hat meine Mutter die wohlriechenden roten Blüten konsequent aus ihrem
Garten verbannt. Die Märsche endeten stets vor der Rathaustribüne auf dem Marktplatz.
Dort verlasen Parteifunktionäre die leicht aktualisierte Rede des Vorjahres,
denn die Planergebnisse lagen in diesem Jahr nicht nur 46, sondern 55 Prozent
über dem Soll, und von dort strömten die Massen nach Hause oder mit einem (politisch
und persönlich) ausgesuchten Kreis in die Kneipe.
Mein Freund Gruni kam gar nicht erst auf dem Rathausplatz an. Regelmäßig
während des Umzugs verdrückten er und seine Kumpels sich zum Heringe angeln an
die Ostsee. Vorausschauend hatte er sein Fahrrad hinter einer Busbude nahe der
Marschroute platziert. Beim Beziehen der Blockaufstellung reihte er sich in
seinen Klassenverband ein, um dann leise und unbemerkt „kurz mal auszutreten“
und zu verschwinden. Am besten in der Kurve, wo die Parade ins Stocken geriet.
Zwanzig Minuten später stand er an der Mole, die Angel im Wasser, die Sonne auf
der Brust. Vorwurfsvolle Blicke am nächsten Morgen. Seine Lehrerin hatte ihn
vermisst. „Martin, Du warst schon wieder nicht beim Umzug dabei.“ „Wieso? Haben
Sie mich nicht gesehen? Ich war doch die ganze Zeit da. Ich lief bei der
Zehnten mit.“ Solche Extravaganzen trauten sich aber nicht viele.
Ich genoss derweil meinen freien Tag im grünen Garten, ein gutes Buch auf
dem Schoß, und ließ mir vorsorglich für das diesjährige Schulselbstportrait schon
mal eine besonders eindrucksvolle Kulisse einfallen. Jubelnde Kinder, eine Parade
mit Autos und Menschen und ein geschmückter Panzer würden sich sicher gut
machen, dazu rote Plakate: „Erster Mai, wir sind dabei!“