Das Pfingstreffen war ein monströses Treffen, und Staat und FDJ scheuten weder Kosten, noch Mühen für ihre Beweihräucherung. Doch der Staatshaushalt war belastet und so bat die FDJ den FDGB (den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund) um Kostenbeteiligung. Dieser stellte 100 Millionen Mark aus dem zentralen Solidaritätsfonds zur Verfügung, von dem die Hälfte in das Pfingsttreffen floss. (Über die Verwendung der übrigen 50 Millionen Mark werde der Zentralrat mi[1] Auch Betriebe leisteten ihren Beitrag. Das Bekleidungshaus Falkensee spendierte „1000 Stirnbänder in fröhlichen Farben“ und der VEB Landmaschinenbau Falkensee fertigte gratis Wäschetrockner und Grills für einen Solidaritätsbasar, wie die Märkische Allgemeine Zeitung berichtete.
t dem FDGB beraten, hieß es später.) Die FDJ dankte dem FDGB öffentlich und herzlich und ohne Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Bereitstellung der Mittel.
Dass es im Vorfeld Probleme gegeben hatte, die Teilnehmer unter den Jugendlichen überhaupt zu mobilisieren, erfuhren die meisten Mitwirkenden nicht. Studenten der Hochschule für Bildende Künste in Dresden und die dortige FDJ-Leitung hatten es sogar abgelehnt, am Pfingsttreffen teilzunehmen – ein Verhalten, das es bislang in der Geschichte der FDJ noch nicht gegeben hatte und für Wirbel sorgte, der aber sorgsam verschwiegen wurde. In den Reihen der Partei und in der Bevölkerung bröckelte es bereits. Die Zeitung Junge Welt, das Zentralorgan der FDJ, allerdings sprach im Mai 1989 von 75.000 Teilnehmern, die angereist waren. Auch wenn dies nur ein schwacher Nachhall der großen „Deutschlandtreffen“ der FDJ der 50er Jahren war, als die DDR-Führung noch gesamtdeutsch missionieren wollte, so war es doch für mich eine eindrucksvolle Veranstaltung.
Ich war damals sechszehn, und die Welt war groß. Und nun stand ein klitzekleiner Teil der Welt offen, ein Teil unserer Hauptstand Berlin, genau genommen nur ein Teil von Ostberlin, aber immerhin ein Teil der Welt, der über meine Alltagswelt hinaus ging. Ich würde eine Woche schulfrei haben, denn die Mitwirkenden reisten früher an, und würde mit meinem Tanzclub bei der Stadionrevue „Show mal her“ auftreten – einem Höhepunkt des Treffens, vor den Großen der Regierung und vor Stars und Sternchen der DDR, mit Liveübertragung im Fernsehen. Sportclubs, Musiker und Akrobaten sollten ihr Können im „Stadion der Weltjugend“ präsentieren.
Bereits Wochen vorher hatten wir mit den Proben begonnen, hatten die zentral aus Berlin kommende Choreographie für Cha-Cha-Cha und Jive einstudiert, gemeinsam mit andere Tanzklubs an den Wochenenden trainiert und im Trainingslager in Berlin die Gesamtwirkung probiert – so wie hunderte andere Turniertänzer im Land. Es sollte spritzig und schnell sein, Lebensfreude und Frohsinn ausstrahlen.
Wir reisten mit einem Barkas aus Rostock an und waren enttäuscht über die Unterbringung in einem Kinderferienlager, eine Stunde außerhalb des Zentrums. Abends nochmal losziehen fiel aus. Und morgens hieß es früh aufstehen, um pünktlich zu den Proben im Stadion zu sein. Abends erhielten wir Essenmarken und einen Verpflegungsbeutel für den kommenden Tag, mit Knäckebrot, Schmalz- und Margarinewürfeln und Dosenwurst nebst klitzekleinem Dosenöffner, mit dem nur der handwerklich Geschickte seine Dosenration aufbekam. Tage später fanden sich die Würfel in den Mülleimern, während wir die Essenmarken beliebig in Restaurants einlösten und uns very important fühlten.
Mit einem Sonderbus fuhren wir morgens zum Stadion. Nebenan existierte seit 1923 der U-Bahnhof Schwartzkopffstraße (benannt nach Louis Schwartzkopff, dessen Werkhallen um 1880 als Zentrum des deutschen Dampflokomotivbaus galten), der jedoch nach dem Mauerbau 1961 stillgelegt worden war. Auf Befehl des damaligen Innenministers der DDR, Karl Maron, waren alle Bahnhöfe der Linie 6 auf Ost-Berliner Gebiet (mit Ausnahme des Bahnhofs Friedrichstraße) für den Personenverkehr geschlossen worden. Der im April 1951 nach dem neu erbauten Walter-Ulbricht-Stadion umbenannte Bahnhof wurde zu einem Geisterbahnhof. Dennoch ließ es sich die Berliner Obrigkeit nicht nehmen, den verwaisten Bahnhof 1973 mit Umbenennung des Stadions ebenfalls in „Stadion der Weltjugend“ umzutaufen, was freilich nur für vorbeifahrende West-Berliner U-Bahn-Fahrgäste sichtbar war, denn auf DDR-Stadtplänen waren die Geisterbahnhöfe nicht verzeichnet.
Das „Stadion der Weltjugend“ war eines der größten Leichtathletik- und Fußballstadien der DDR – 1950 in der Chausseestraße, auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne mit einer Kapazität von 70.000 Stehplätzen erbaut, die Tribünen mit dem Schutt des gerade gesprengten Berliner Stadtschlosses aufgeschüttet und zunächst benannt nach dem ersten Generalsekretär der SED, Walter Ulbricht. Dessen Barttracht verhalf dem Stadion auch zum Beinamen „Zickenwiese“. Anlässlich der X. Weltfestspiele 1973 (noch zu Lebzeiten des zwei Jahre zuvor entmachteten Ulbricht) wurde das Stadion umgebaut und umbenannt. Hier wurden das alljährliche Endspiel des FDGB-Pokals und internationale Leichtathletik-Wettbewerbe ausgetragen, hier trafen sich Menschen aus aller Welt, hier wehte westlicher Wind, hier schaute man über den eigenen Tellerrand hinweg. Ja, so musste sich das anfühlen, die große weite Welt. Hier roch es anders – nach Großstadt und ein ganz kleines bisschen nach Freiheit.
Auf dem Gelände waren Zelte aufgebaut, die Rasenfläche war mit Hartfaserplatten ausgelegt. Wir probten Einmarsch, Tänze, Figuren. Nach unserem Auftritt fuhr Schlagerstern Wolfgang Ziegler in die Arena und sang seinen Hit „Verdammt und dann stehst du im Regen“. Der Titel lief auf Abschlussbällen hoch und runter, weil man dazu hervorragend Disco-Fox tanzen konnte. Nach unserem Auftritt sollten sich alle Tänzer im Stadion um den Star scharen und ihm zujubeln, klatschen und mittanzen, doch irgendwie wollte kaum einer auf Befehl klatschen oder jubeln, egal zu welchem Titel. Außerdem war es ermüdend, nach dem vierten Einfahren der Bühne noch immer zu klatschen. „Das proben wir gleich nochmal“, klang es angespannt aus den Lautsprechern, „Aber jetzt richtig mit Pepp.“ Und ein frustriertes, leises Fluchen der Organisatoren war nicht zu überhören.
Abends saßen wir erschöpft, aber in Feierlaune hinter der Lagerbaracke unter dem Nachthimmel, diskutierten und philosophierten über anstehende Abschlussprüfungen, Zukunftsträume und Sehnsüchte, tranken Wein und eine Zigarette machte die Runde. „Willst du? Ist ´ne Club, mit Filter“, ermunterte mich Sven. Ich konnte trotz des höheren Preises für diese Marke dem rauchigen Geschmack einer Zigarette nichts abgewinnen und spülte ihn mit einem Schluck Rosenthaler Kadarka herunter. Sven reichte weiter an Anja und Patrizia.
Als Mitwirkende hatte man neben der Schulabwesenheit und dem Fahrtausweis für öffentlichen Verkehrsmittel noch einen ganz entscheidenden Vorteil gegenüber den Delegierten: man musste nicht an den Demonstrationen und Umzügen teilnehmen. Die Delegierten – ausgezeichnete Jugendliche der Schulen und Betriebe – wurden in Sonderzügen aus der ganzen Republik in die Hauptstadt gekarrt und in Schulen und Privatquartieren untergebracht. Das war keine leichte Übung. Auch wenn die Zeitungen schon Wochen vorher ankündigten, dass wieder „Quartierswerber“ unterwegs waren, um für das Pfingstreffen private Schlafstätten zu organisieren, meldeten sich immer weniger Leute und das Plansoll von 100.000 Betten wurde schon lange nicht mehr erreicht. (1984 wurden immerhin 70.000 Privatquartiere vermittelt.) So ein Quartier bestand aus einer Grundfläche von zwei Quadratmetern in Wohnzimmer oder Flur; für Matratzen und Decken sorgte die FDJ. Viele fuhren auch privat nach Berlin, was den Vorteil hatte, dass sie nicht an den „Aufmärschen“ teilnehmen mussten, aber Konzerte und die Disco im Palast der Republik miterleben konnten.
Berlin erlebte an diesen Tagen einen inländischen Besuchersturm ohne gleichen. Rund um Alex, Palast der Republik und Unter den Linden standen Verkaufsstände, Musik dröhnte aus Lautsprechern und Menschen schoben sich dichtgedrängt durch die Straßen. Auf der Karl-Marx-Allee marschierten die Jugendlichen, von FDJ-Sekretären zum Jubeln, Singen und Fahnen schwenken motiviert, vorbei an der Tribüne mit Erich Honecker und Vertretern von Partei und Staat, die freizügig Auszeichnungen und Orden an Jugendkollektive vergaben. So durfte sich die Jugendbrigade „Wostock I“ des Plastverarbeitungswerkes Staaken fortan „Hervorragendes Jugendkollektiv“ nennen, und die Jugend Welt konstatierte am 16. Mai 1989 „Die Karl-Marx-Allee im Blauhemd: 40 Jahre und kein bisschen leiser“.
Bands spielten auf den Bühnen. Man munkelte, dass sogar „Die Art“ auftreten sollte, eine Kultband in der DDR. Ich hatte eine Kassette von ihnen, von einem Freund auf meinem Kassettenrekorder überspielt. Eigentlich mochte ich die Musik nicht wirklich, aber sie war angesagt und cool, systemkritisch und underground. Die Mitte der 80er Jahre um Holger Oley gegründete Band sang sich mit verbotenen Texten von Industriestaub über den Städten, Schaum auf der Saale und Hautkranken in den Polikliniken den Frust von der Seele und entzog sich der vorgegebenen Einstufung durch das Bezirkskabinett für Kulturarbeit. Eine Independent-Szene war erblüht, die das Konzertgeschehen auch ohne Konzert- und Gastspieldirektion florieren ließ, und eine rebellische Jugend, die sich wenig um Sozialismus scherte, wurde immer lauter.
Ein Hauch von Woodstock, Flower Power, Liebe und Freiheit lag in der Luft, nicht mit Batik-Gewändern und Jesuslatschen, sondern Blauhemd und FDJ-Abzeichen. Freundschaft wurde ernst genommen – in jeder Hinsicht. So suchte Viola zwanzig Jahre später auf www.wobistdu.com den Vater ihrer Tochter Julia. Sie war stomatologische Schwester und als medizinische Betreuung für eine Jugendgruppe aus Pirna zum Pfingsttreffen eigesetzt worden, wo sie den Betreuer „ihrer“ Gruppe, den „dunkelhaarigen und schnuckeligen“ Steffen kennenlernte. Genauso schnell wie er eintrat, trat er auch wieder heraus aus dem Leben der verheirateten Frau. Freundschaft war am Ende vielleicht doch nur ein Wort, gebrummt auf Fahnenapellen und Kundgebungen.
Unsere Shows (zwei an der Zahl) liefen reibungslos. Die Bühnenbilder waren kolossal, die Sonne strahlte, Erich Honecker und Egon Krenz winkten von der Ehrentribüne, Sportler zeigten rhythmische Sportgymnastik, Übungen mit Reifen und Bällen, farbenfroh und ausgelassen, aber diszipliniert. Mit dabei auch das Zentrale Musikkorps der FDJ und der Pionierorganisation Ernst Thälmann (ZMK) und das Zentrale Pioniertanzensemble der FDJ (ZPTE). Hunderte Kinder und Jugendliche waren Mitglieder in diesem Ensemble, und vielfach war ihr Ruf „7, 8, 9, 10 – Klasse“ in den Stadien der Republik, der UdSSR, Polens und sogar Algeriens ertönt. Im Mai ahnte niemand von ihnen, das dies ihr letzter großer Auftritt sein würde; mit der Wende kam das Ende für das 1973 gegründete Tanzensemble.
Fünfundzwanzig Jahre später – der Rauch des Abschiedsfeuerwerks ist längst verraucht und die Musik der Bands verklungen – ist Wolfgangs Zieglers Hit als Remix auf youtube zu finden, das Tanzensemble hat sein zweites Wiedersehenstreffen begangen und die U-Bahn hält wieder in der Schwartzkopffstraße. Dennoch erinnert nur noch wenig an das Pfingsttreffen von 1989, wo sich abseits ideologischer Rahmenbedingungen auch viel Menschlichkeit abspielte – „Show mal her!“
[1] Der Beschluss des
FDGB-Präsidiums sei dem FDJ-Zentralrat im September 1988 mitgeteilt worden,
erklärte der Pressesprecher des Zentralrats der FDJ, Andreas Dywicki, gegenüber
ADN, wie die Berliner Zeitung vom
29.11.1989 berichtete. DDR 1989, http://www.ddr89.de/ddr89/chronik/1189/281189.html.